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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
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Kindern, das machte sie müde und hielt sie davon ab, auf dumme Gedanken zu kommen. So stellten die Mandori sicher, dass ihr Nachwuchs bei Sonnenuntergang pünktlich und vollzählig vor den Höhleneingängen stand, ehe die Tore geschlossen wurden.
    Eines der Tore bewegte sich jetzt.
    Es war früh am Morgen, und im Wellowin herrschte diesiges Zwielicht. An Gras und Stauden schimmerte Tau, und bis auf eine betriebsame Zikade war noch alles still. Sie saß oben auf dem Schildkrötenpanzer, unmittelbar vor der nachtstarren Nase einer Eidechse, und zwirbelte ihre dürren Hinterbeine, dass es nur so zirpte.
    Das Tor ruckte hoch und glitt zur Seite. Eine braune Jungenhand erschien, dann ein Kopf voll zerzauster Haare.
    Punta blinzelte, sah sich um. Er nickte zufrieden.
    »Ngurrun (Wagiman-Dialekt der Aborigines) !«, rief er nach unten. »Die Sonne geht auf!«
    Ohne eine Reaktion abzuwarten, zog sich der Elfjährige ins Freie. Dass die Nächte auch immer so lange dauerten! Punta streckte sich. Klar, die Wärme und Geborgenheit der Familie war angenehm, und auf dem gemeinsamen Lager konnte man gut schlafen. Aber doch nicht ewig!
    Ein zweiter Mandori ließ sich am Höhleneingang blicken.
    Taranay war älter als Punta; er zählte schon siebzehn Jahre und seine Stimme war tief. Um diese Tageszeit war sie zudem noch voll der schlechten Laune, denn Taranay hatte nachts seit Neuestem anderes zu tun als zu schlafen.
    Punta grinste ihn wissend an. Allerdings nur kurz.
    »Ngurrun?«, raunzte der Mandori. »Larrweng-nga, garnditjjin! Und jetzt beweg dich zurück aufs Lager! Oder halt wenigstens die Klappe!«
    Es rummste vernehmlich, als Taranay den Höhleneingang schloss. Der Ruck transportierte die immer noch starre Eidechse so nahe an ihr lärmendes Insektenfrühstück, dass sie nur noch das Maul öffnen brauchte. Das tat sie dann auch.
    Stille breitete sich aus im Wellowin.
    Punta starrte düster auf den Schildkrötenpanzer. Taranay war ein Piig! Er hatte zu ihm gesagt: Mach die Augen auf! und ihn garnditjjin geschimpft. Wurm! Das Wort spielte auf ein gewisses Körperteil an. Die Siebzehnjährigen nannten ihr eigenes
    gotjjonon
    (Banane), denn so sah es aus, beneidenswerter Weise. Punta blickte an sich herab und seufzte. Wurm kam schon irgendwie hin.
    Der Junge trat vor, stellte sich breitbeinig an den Schildkrötenpanzer und begann seine Blase zu entleeren.
    Passieren konnte nichts. Das Tor war ja verschlossen. Punta zielte auf die Eidechse und malte sich aus, es wäre Taranay, der da so jammervoll zappelnd zu entkommen versuchte.
    Geschah ihm recht! Auch ein Wurm hatte schließlich seinen Stolz.
    »He! Was ist da oben los?«, brüllte plötzlich eine Stimme aus der Tiefe.
    Puntas Glücksgefühl verflog und machte Platz für eine Menge Angst. Viel Platz, denn die Stimme gehörte seinem Vater! Nach der Verspätung gestern Abend war es nicht ratsam, ihm einen weiteren Anlass zum Ärgern zu geben, deshalb sah Punta zu, dass er fort kam. Er rannte den Pfad zu den Feldern hinunter, als wäre der Owomba hinter ihm her, und je länger er sich das vorstellte, desto mehr geriet er in Panik.
    Owomba.
    Das Wort allein reichte aus, um Mandori-Kinder jeden Alters in Angst und Schrecken zu versetzen. Hauptsächlich deshalb, weil es ihren Eltern nicht anders erging. Niemand hatte den mörderischen Nachträuber je gesehen – außer den Toten, und die erzählten nichts über ihn. Das hätten sie selbst dann nicht getan, wenn man ihnen im Traum begegnet wäre, denn der Owomba zerfleischte seine Opfer. Was beim nächsten Frühtau im Wellowin lag, besaß nichts mehr, womit es hätte reden können. Aber darüber wollte Punta nicht nachdenken.
    Als er die Felder erreichte, kam gerade das Morgenrot über die Kata Tjuta. Der Junge verharrte einen Moment vornüber gebeugt, Hände an den Knien, um seinen fliegenden Atem zu beruhigen. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu fürchten.
    Tagsüber schlief der Owomba. Irgendwo in den Bergen, weit weg.
    Kaum hörten die Seitenstiche auf, setzte sich Punta wieder in Bewegung. Endlose Reihen junger Pflanzen bevölkerten an dieser Stelle den Boden, warteten auf die Hitze des Tages und darauf, gegossen zu werden. Punta hasste sie. Er war noch am Schildkrötenfluss geboren und erinnerte sich an den köstlichen Geschmack gebratener Fische. Da konnte dieses Gemüse nicht mithalten.
    Bathii wurde es scherzhaft genannt, Großmutter. Das lag an der Zeichnung der Kohlköpfe. Sie hatten rote Stellen im eng gefalteten
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