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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
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Blättergewirr, wie Augen und Mund. Man glaubte zerknitterte Gesichter zu erkennen. Punta streckte einem davon die Zunge heraus, während er durch die Reihen ging.
    Den Brunnen unter dem Holzgerüst ließ er links liegen. Das Wasser der Wellowin-Quelle schmeckte erdig, und Punta trank es nur, wenn die Arbeit unter gleißender Sonne ihm die Kehle austrocknete. Einen Moment dachte er daran, wenigstens ein paar Pflanzen zu gießen. Das hätte den Vater sicher freundlich gestimmt. Aber es kostete auch Zeit, und die wollte Punta nicht auf dummes Gemüse verschwenden.
    Als er den Rand der Felder erreichte, wandte er sich nach rechts, dem Talausgang zu. Etwa sieben Meilen entfernt ragte in der Ebene ein Gürtel aus mannshohem Savannengras auf.
    Dahinter wurde der Boden abschüssig, und dort endete das Anangu-Land.
    Leichtfüßig lief der Junge seinem eigentlichen Ziel entgegen: dem Schildkrötenfluss. Acht Sonnenwenden hatte Punta dort gelebt, und es waren so gute Jahre gewesen! Kein Kind musste arbeiten, denn der Fluss bot reichlich Nahrung.
    Geschlafen wurde unter den Sternen, gespielt im kühlenden Uferwind, und immer war da das angenehme Rauschen der Wellen. Punta erinnerte sich auch noch an die ehrfürchtigen Blicke, die er und seine Gefährten den Männern hinterher schickten, wenn diese zu ihren Ritualplätzen aufbrachen, um sich in etwas höchst Geheimnisvolles zu versetzen. Traumzeit.
    Was mochte das sein?, fragten sich die Kinder damals.
    Inzwischen hatte Punta eine Ahnung davon. In der Traumzeit konnte man erfahren, wie der Große Geist – der Ahne – erst das Land und das Wetter, dann Pflanzen und Tiere und zuletzt die Menschen schuf. Es gab geheimnisvolle Legenden, und man lernte heilige Objekte und Rituale der Vergangenheit kennen. Dadurch auch sich selbst, irgendwie.
    So jedenfalls hatte es der Heiler erklärt, der alte Mann mit den traurigen Augen.
    Punta erreichte das Savannengras. Über ihm wogten die Halmspitzen umeinander, als er sich in das dichte Gewirr der Stängel zwängte. Inzwischen war die Sonne aufgegangen.
    Nicht mehr lange, dann würde sich der Morgendunst auflösen und das Land der sengenden Hitze preisgeben.
    Damals am Schildkrötenfluss hatten die Mandori schattige Plätze aufgesucht, wenn es ihnen zu viel wurde. Ihre helle Haut ertrug die Sonne nicht unausgesetzt; sie wurde irgendwann rot und begann zu schmerzen. Besonders die der Kinder.
    Dunkelhäutigen Menschen hingegen machte sie nichts aus, und Punta fragte sich, ob das vielleicht der Grund dafür war, dass die Anangu ihre Ritualplätze ausgerechnet in den Hitze flimmernden Bergen angelegt hatten. Damit sie ungestört blieben und ihnen niemand in die Quere kam. Doch er verwarf den Gedanken wieder.
    Die Kata Tjuta waren heilig, das hatte er gelernt. In ihren Tälern konnte man die Gegenwart des Ahnen spüren. In einem war sogar seine Stimme zu hören! Der Wind trug sie heran, dieser wispernde Hauch, der das Wellowin durchzog. Selbst Punta hatte darin schon Worte erkannt. Das durfte er allerdings keinem erzählen, sonst handelte er sich eine schallende Ohrfeige ein. Schließlich war er noch ein Kind, und dass der Ahne zu Kindern sprach, war vollkommen ausgeschlossen!
    Wenn überhaupt, dann teilte er sich Yangingoo mit, dem Clanführer. Er allein konnte das Raunen im Wind deuten, deshalb hatte man ihn ja auch zum Clanführer gemacht. Doch selbst er bekam keine Antwort auf die eine, wichtige Frage.
    Und so hofften die Mandori seit Jahren vergebens, dass der Ahne ihnen den Weg verraten würde. Denn das war der Grund gewesen für den Umzug ins gefährliche Wellowin: Sie hatten den Zugang zur Traumzeit verloren.
    Punta atmete auf, als er das Ende des Grasgürtels erreichte und ins Freie trat. Vor ihm lag weites Land, von Büschen und kleinen Bäumen durchsetzt. Mittendrin glänzte der Schildkrötenfluss. Man konnte ihn schon rauschen hören, und da war angenehme Frische im Wind.
    Der Junge zog ein Messer aus der Schlinge am Lendenschurz. Er wollte sich Stöcke beschaffen, sie anspitzen und auf die Jagd gehen. Die Fische hier waren köstlich! Punta lächelte. Eigentlich hatte ihn sein Vater wegen der Verspätung gestern zur Feldarbeit verdonnert. Doch er würde bestimmt nicht ärgerlich sein, wenn Punta ihm stattdessen heute Abend einen guten Fang präsentierte…
    ***
    (Grao? Wieso kann ich Nuntimor nicht spüren?) (Spürst du überhaupt etwas?)
    (Hmm-m. Du hast das Schwert aber bestimmt vergraben, ja?)
    (Natürlich.) Grao’sil’aana
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