Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern
Autoren: Stephanie Seidel
Vom Netzwerk:
Der Todesrochen nahte!
    Thgáan machte sich schon aus der Ferne bemerkbar, damit Grao’sil’aana Zeit blieb, ihm ein Stück entgegen zu laufen. Die Kukka’bus würden in Panik geraten, wenn ihnen der große Rochen zu nahe kam, und mit ihrem Höllengelächter wahrscheinlich das ganze Tal in Aufruhr versetzen.
    Grao’sil’aana schilderte Daa’tan die Situation und verabschiedete sich mit dem Versprechen, das unterbrochene Gespräch in ein, zwei Stunden fortzusetzen. Dann rannte er los.
    Er dachte sich nichts dabei, dass keine Antwort kam.
    ***
    Während Grao’sil’aana am Schildkrötenfluss trank und sich wusch und Thgáan auf den Wellen lag, um für ihn Nahrung zu beschaffen, hielten die Mandori unter der Erde ihre abendliche Versammlung ab.
    Es war stickig im flackernden Halbdunkel der Gänge, und es roch penetrant nach Kohl. Je näher man der großen Gemeinschaftshöhle kam, desto mehr vermischte sich der Geruch mit menschlichen Ausdünstungen; es stank nach Fäkalien und dem säuerlichen Erbrochenen der Stillkinder.
    Die Mandori-Mütter hatten ihre liebe Mühe mit dem Nachwuchs. Er war zahlreich vorhanden, und er verhielt sich wie jede Generation vor ihm: Fing ein Baby an zu plärren, fühlten sich alle anderen verpflichtet, es zu übertönen.
    Der Lärm war unsäglich.
    In der Höhle selbst war der Teufel los, oder wurrguru, wie er hier in Ausala genannt wurde. Kinder jeden Alters rannten durch die Gegend. Einige spielten, viele zankten, alle lärmten, und keines kümmerte sich auch nur einen Deut um etwa im Weg befindliche Hindernisse, egal, ob es die knotigen Beine der Großmutter waren oder eine Holzschale voll dampfender Speisen.
    In weitem Kreis um die Feuerstelle aber saßen die Mandori-Männer und nahmen ihr Essen zu sich. Man konnte meinen, sie wären taub, so gelassen ertrugen sie das Gerenne und den Lärm. Besonders Yangingoo, der Anführer. Er beanspruchte einen Sonderplatz aus gestapelten Fellen mit einer riesigen Klaue als Rückenlehne – eine Art Chefsessel, der seine gehobene Position unterstreichen sollte – und natürlich auch die größte Schüssel. Randvoll stand sie auf Yangingoos gekreuzten Beinen und dampfte ihm heiße Brühe ins Gesicht.
    Heute gab es Eidechsen-Eintopf. Die kleinen braunen Flitzer sonnten sich tagsüber gern auf den Feldern. Nun steckten sie verkocht im Kohl. Yangingoo fischte sie mit fettigen Fingern heraus und stopfte sich den Mund voll.
    Die Sitzordnung beim abendlichen Mahl war strengen Regeln unterworfen. Rechts vom Anführer saßen seine ältesten Söhne, links von ihm der Schamane, der Heiler, der Oberste Jäger und der Bienentänzer. Die anderen Plätze staffelten sich nach Alter und Rang, bis hinunter zu den unverheirateten Männern auf der anderen Seite des Feuers. Frauen waren in der Runde nicht zugelassen. Es hätte nur gestört, dieses dauernde Aufspringen und wieder Hinsetzen beim Nachfüllen der Schüsseln. Außerdem wurden im Flammenkreis Dinge besprochen, von denen Frauen keine Ahnung hatten.
    Yangingoo pulte gerade eine besonders fette Echse aus dem Kohl, als eines dieser Dinge zur Sprache kam.
    »Was denkst du: Wie lange wird es noch dauern, bis der Ahne dir den Weg in die Traumzeit weist?«, fragte ihn der Oberste Jäger.
    »So lange, wie es eben dauert«, gab Yangingoo zurück, ohne den Blick von seinem Essen zu nehmen. Yangingoo war nackt bis auf den üblichen Lendenschurz. Sein feistes Gesicht glänzte wie eine Speckschwarte, und zwischen den beinahe weibischen Brüsten rann ihm der Schweiß auf den Bauch.
    Yangingoo strich ihn weg und meinte stirnrunzelnd: »Ich sollte vielleicht etwas abnehmen.« Dann aß er weiter.
    Der Schamane tastete nach Yangingoos Schulter. Warnambi war blind, deshalb hieß er auch so: Blinde Schlange. Die meisten Mandori-Männer von Rang führten einen Namen, der Auskunft über ihre Besonderheit gab. In Warnambis Fall hätte auch Verschlagener Egomane gut gepasst, nur kannte der Clan diese Bezeichnung nicht.
    Warnambi näherte sich dem Ohr des Anführers und raunte:
    »Du musst vorsichtig sein, Bruder! Wenn du ihnen das Gefühl gibst, sie nicht ernst zu nehmen, werden sie bald nach einem neuen Anführer verlangen! Und was mit dem alten geschieht, weißt du ja.«
    Yangingoo nickte. Sein Vorgänger, der rechtmäßige Clanchef, hatte zugegeben, dass er keine Lösung für das Traumzeitproblem wusste. Er wurde dann gefesselt und mit dem Kopf voran in die Höhle einer Riesentarantel gesteckt.
    Warnambi hatte diese Idee
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher