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19 Minuten

19 Minuten

Titel: 19 Minuten
Autoren: Jodi Picoult
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das Gesicht an Matts Rücken, und dann flog die Tür zum Umkleideraum auf. Peter kam hereingestolpert, die Augen irre, eine Pistole in der Hand. Josie sah, dass sein linker Turnschuh offen war, und im selben Moment war sie fassungslos, dass ihr so etwas auffiel. Er richtete die Waffe auf Matt, und sie konnte nicht anders, sie schrie.
    Vielleicht war es das laute Geräusch, vielleicht war es ihre Stimme. Jedenfalls zuckte Peter zusammen und ließ seinen Rucksack fallen. Dabei glitt eine zweite Pistole heraus.
    Sic schlitterte über den Boden und landete direkt hinter Josies linkem Fuß.
    Es gibt Momente, da wird die Welt so langsam, dass du förmlich spürst, wie sich deine Knochen bewegen und deine Gedanken sich überschlagen. Momente, in denen du denkst, dass dir jedes noch so kleine Detail dieser einen Minute für immer in Erinnerung bleiben wird. Josie sah, wie ihre Hand nach der Pistole tastete, wie sich ihre zitternden Finger um den kalten schwarzen Griff schlossen. Sie stand taumelnd auf und richtete die Waffe auf Peter.
    Matt wich rückwärts Richtung Duschen. Peter hielt seine Pistole noch immer auf Matt gerichtet, obwohl Josie ihm näher war. »Josie«, sagte er. »Lass mich das zu Ende bringen.«
    »Schieß, Josie«, sagte Matt. »Knall ihn ab.«
    Peter lud die Pistole durch, indem er den Schlitten nach hinten zog. Josie beobachtete ihn genau und tat es ihm gleich.
    Sie erinnerte sich an die Zeit mit Peter im Kindergarten - wie andere Jungs mit Stöcken oder Steinen in der Hand rumgerannt waren und Hände hoch gebrüllt hatten. Was hatten sie und Peter mit den Stöcken gemacht? Sie wusste es nicht mehr.
    »Josie, um Himmels willen!« Matt schwitzte, seine Augen waren riesig. »Verdammt, bist du bescheuert?«
    »Sprich nicht so mit ihr«, schrie Peter.
    »Schnauze, du Arschloch«, sagte Matt. »Denkst du etwa, sie wird dich retten?« Er wandte sich Josie zu. »Worauf wartest du denn? Schieß endlich.«
    Also tat sie es.
    Als die Waffe losging, riss sie ihr zwei Hautfetzen vom Daumenansatz. Ihre Hände schlugen nach oben, taub, summend. Das Blut auf Matts grauem T-Shirt war schwarz. Er blieb einen Moment stehen, eine Hand auf der Wunde in seinem Bauch. Sie sah, wie sich sein Mund um ihren Namen schloss, aber sie hörte ihn nicht, weil das Dröhnen in ihren Ohren zu laut war . Josie?, und dann fiel er zu Boden.
    Josies Hand versagte ihr jeden Dienst. Sie war nicht erstaunt, als die Pistole ihr einfach aus den Fingern glitt, als wollten sie sie nur noch loswerden, nachdem sie sie zuvor so verzweifelt umklammert hatten. »Matt«, schrie sie und lief zu ihm. Sie drückte mit den Händen auf das Blut, weil man das doch so machte, nicht wahr? Aber er wand sich und schrie vor Schmerz. Blut sprudelte aus seinem Mund, lief ihm am Hals herab. »Tu was«, schluchzte sie und sah Peter an. »Hilf mir.«
    Peter kam näher, hob seine Pistole und schoss Matt in den Kopf.
    Entsetzt kroch sie rückwärts, weg von den beiden. Das hatte sie nicht gemeint. Das konnte sie nicht gemeint haben.
    Sie starrte Peter an, und sie erkannte, dass sie in diesem einen gedankenlosen Augenblick genau dasselbe empfunden hatte wie er, als er mit seinem Rucksack und den Waffen durch die Schule gezogen war. Jedes Kind in der Schule spielte eine Rolle: Sportskanone, Intelligenzbestie, Schönheit, Spinner. Peter hatte nur das getan, wovon sie alle heimlich träumten: Jemand sein - und sei es nur für neunzehn Minuten -, über den niemand mehr urteilen durfte.
    »Nichts verraten«, flüsterte Peter, und Josie begriff, dass er ihr einen Ausweg anbot - einen in Blut besiegelten Pakt, eine Allianz des Schweigens. Ich hüte deine Geheimnisse, wenn du meine hütest.
    Josie nickte langsam, und dann wurde alles schwarz.

Ich denke, ein Mensch sollte sein wie eine DVD. Du kannst dir die Version anschauen, die jeder sieht, und den Director's Cut -die vom Regisseur bevorzugte Fassung, ehe die Welt sich dran zu schaffen machte.
    Wahrscheinlich gibt es ein Hauptmenü, damit du gleich an den besonders guten Stellen einsteigen kannst und die schlechten nicht noch einmal durchleben musst. Du kannst dein Leben an der Anzahl der Szenen messen, die du überlebt hast, oder an den Minuten, die du darin festgesessen hast.
    Aber vermutlich ist das Leben ja doch eher wie so ein ödes Band aus einer Überwachungskamera. Grobkörnig und unscharf, ganz gleich, wie angestrengt du darauf starrst. Und mit einer Endlosschleife: immer dasselbe, wieder und wieder.

Fünf Monate
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