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19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits
Autoren: Karl May
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Oberkörper gerade auf, breitete die Arme aus und rief:
    „Seid mir gegrüßt, ihr Folgsamen der Liebe! Hier bring ich euch den Mann, den sie gerichtet hat, die höhnisch er verlachte! Ihr habt das gute Teil erwählt und er für sich die Strafe!“
    Welche Überraschung für uns! Ja, er war es, der alte Münedschi, der auch jetzt wieder mit der Stimme Ben Nurs gesprochen hatte! Die Kamele knieten nieder; er wurde abgebunden und auf eine ausgebreitete Decke gesetzt. Der andere, oder die andern, denn es waren wirklich zwei, waren auch angebunden. Auch sie wurden losgemacht, und da sahen wir, daß nur einer von ihnen sich bewegte; der andere hing unbeweglich auf seinem Rücken.
    „Wer sind diese zwei?“ fragte Halef.
    „Geh hin, und schau sie an!“ antwortete der Scheik.
    Der Hadschi tat es. Kaum war er dort, so rief er aus: „Der Ghani, der Ghani! Und der andere ist sein Sohn! Er trieft von Blut und ist an ihm festgebunden! Oh, Sihdi, Sihdi, ich glaube, er ist tot!“
    Es war mir, als ob jemand mir mit einer in kaltes Wasser getauchten Hand über den Rücken streiche! Das war ja entsetzlich, entsetzlich! Das war im wahrsten und zugleich im überzeugendsten Sinne ein Gottesgericht. Wer da noch von Zufall sprechen kann, an den ist jedes weitere Wort Verschwendung!
    Der ‚Liebling des Großscherifs‘ mußte sich auch setzen, und zwar zwischen zwei Beni Lam, welche seine Wächter waren. Und das tat er mit der hinter ihm festgebundenen Leiche seines Sohnes! Es war so grauenhaft anzusehen, daß ich mich abwendete. Er sagte kein Wort; keinen Laut ließ er hören! Sein Gesicht konnte ich der Dunkelheit wegen von meinem Platz aus nicht sehen oder doch nicht erkennen. Halef kam wieder her und sagte in bewegtem Ton:
    „Wie mich das gepackt hat, Effendi, das kann ich dir gar nicht sagen! Es ist mir, als ob ich an der Waage der Gerechtigkeit stände und selbst gewogen werden sollte! Nichts Böses tun, nur nichts Böses tun! Ich wollte, tausend Menschen, Millionen Menschen, alle Menschen, die ganze Menschheit ständen hier, um diesen niederschmetternden Beweis zu sehen, daß Allah sich nicht spotten läßt! Horch! Was war das? Hast du es gehört?“
    „Ja.“
    Es war vom Tachterwahn her ein Schluchzen geklungen, dem man anhörte, daß es zurückgehalten werden sollte, aber doch nicht unterdrückt werden konnte.
    „Das ist Hanneh, die weichherzigste aller gütigen Frauen! Sie fühlt sich auch ergriffen, tief ergriffen. Oh, Effendi, und früher habe ich mich oft mit ihr gestritten, weil ich als Moslem behauptete, daß die Frauen keine Seelen haben! Und jetzt geht mir nicht nur die meinige, sondern noch viel, viel mehr die ihrige über alle irdischen Vorzüge und alle Reichtümer dieser Welt! Wenn ich mir den Mann dort vorstelle, wie er geifernd vor uns stand, um unsere Liebe zu schmähen und zu verlachen, wie er lästernd sie herausforderte, ihn zu strafen, und ihn nun zusammengebrochen unter der fürchterlichen Last der Leiche seines Sohnes dort hocken sehe, so habe ich das Gefühl, als ob mir alle meine Nerven einzeln aus dem Leib gezogen werden sollen! Ich möchte es hinausschreien über die Wüste, die Städte und Dörfer, über die Flüsse und Ströme, über alle Länder und alle Meere, daß es außer dem Glauben für die Seele keine andere Luft zum Atmen gibt, und daß die Liebe das einzige Licht, die einzige Wärme im Himmel und auf Erden ist!“
    Scheik Abd el Idrak saß noch neben uns. Er hörte Halefs Worte, machte eine Bewegung der Hände, um unsere Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen, und sagte dann:
    „Es hat auch für mich stille und einsame Stunden gegeben, in denen ich hinabgetaucht bin in die Fluten meines Innern, um zu sehen, was ich da unten finden werde, ob Perlen oder häßliches Getier. Meist war es das letztere. Und es hat wieder Stunden gegeben, in denen ich hinausgeschaut habe auf die Fluten des Lebens, auf die Segel, welche den heimatlichen Hafen verlassen, um nach der fremden Stätte getrieben zu werden. Ich sah die Güter, die sie trugen, vor Allah wertlose Lasten, und wunderte mich nicht, daß sie im Sturm dann sanken oder an Riffen zerschellten. Ich bin ein Bewohner der Wüste, und diese scheinbar so öde Wüste ist voller Gedanken. Ich erhielt meinen Teil davon, doch machten sie mich nicht glücklich. Es wohnte ein Verlangen in mir, eine oft laut aufschreiende Sehnsucht, die keine Erhörung fand, so weit die einsame Wüste, so weit das bewohnte Land und so weit mein Leben reicht. Ich
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