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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition)
Autoren: Vincent Voss
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Ängste von vornherein als Hirngespinste oder Störungen zu klassifizieren. Kai behandelte sie wie eine Patientin, weil er um ihre Angst vor der Dunkelheit wusste – weil er sie deshalb begleitete.
»Kai, hier ist etwas!«, schrie sie und es war ihr egal, ob sie damit eine unsichtbare Schwelle übertrat, die man als Pflegepersonal in einer psychiatrischen Einrichtung nicht übertreten sollte: Angst vor ETWAS zu haben und sie zu äußern. Oder DINGE zu sehen oder zu hören, die andere nicht wahrnahmen. Vor zwei Jahren hatte die Grützmann die Fronten gewechselt – wie sie sagten. Hatte immer ein Klingeln gehört. So fing es an. Larissa hörte wie der Essenswagen kurz an Geschwindigkeit verlor, stockte, aber dann wieder beschleunigte und die metallene Schwingtür zur Küche aufstieß.
»Bin gleich zurück, Larissa«, beschwichtigte Kai sie. Es klang besorgt. Er drückte den Lichtschalter für das Küchenlicht. Nichts.
»Scheiße, was ist denn heute bloß los!«, fluchte er, hielt den Wagen an und wendete ihn. Er würde ihn hier im Eingangsbereich stehen lassen und nicht nach hinten neben den Frühstückswagen stellen, wie es das Küchenpersonal wünschte und es sich als Ablauf eingeschliffen hatte. Etwas schepperte, als wenn eine Kelle oder ein Bratenwender auf die Fliesen gefallen wäre. Kai verharrte und lauschte.
»Kai? Kai, was ist da los?!«, schrie Larissa mit sich überschlagender Stimme.
»Pst … sei mal leise. Ich glaub´ hier ist ´ne Katze durch das Rolltor rein, oder so«, antwortete er und zweifelte gleich darauf an seiner Aussage.
Das Rolltor nach draußen war geschlossen. Im Sommer stand es manchmal über Nacht offen. Warum auch nicht, dachte Kai. Wer sollte hier schon in die Küche eindringen? Vielen Kollegen war es aber zu unheimlich.
Er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu hören, aber es blieb still. Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und wollte zurück zu Larissa gehen, deren Umrisse er im schwachen Schein der Fahrstuhlbeleuchtung sehen konnte.
*
Ihre Augen hatten sich soweit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie mit dem wenigen Restlicht, dass aus dem Fahrstuhl wie ein fremder Invasor in die Dunkelheit drang, Kais Konturen wie einen Schemen am Ende des Flurs erkennen konnte. Sie atmete auf: Er kam zurück.
Ein Geräusch. Rohes Fleisch landete auf einer metallenen Arbeitsfläche, ein dumpfer Schlag … Textil riss, Fleisch riss. Ein Stich? Sie war sich nicht sicher. Kai röchelte. Sein Schemen strauchelte, wankte. Eine weitere Bewegung hinter ihm, tiefer aus der Dunkelheit. Das Geräusch wiederholte sich, das Röcheln klang gequält. Ein Pfeifen, als wenn Luft entwich, wo sie nicht entweichen sollte. Wie bei einem Patienten mit Kehlkopfkrebs, dessen Ventil gereinigt wurde. Oh Gott, es war Kai!
Kai war etwas zugestoßen und sie stand im DUNKELN , konnte sich nicht rühren. ETWAS hatte Kai angegriffen und machte, dass Luft aus ihm entwich, wo sie nicht entweichen sollte. Larissa wollte schreien, sich abwenden, fliehen! Aber sie konnte nicht. Ihre Beine bewegten sich nicht, ihre Stimme versagte. Sie nässte sich ein, sie zitterte. Wie konnte sie dieses überwältigende Gefühl der Panik in Energie umwandeln? Energie für einen Schrei. Dafür, in den Fahrstuhl zu stürzen und nach oben in Sicherheit – ins Licht – zu fahren.
»A..ssahhhh«, keuchte und pfiff es von dort, wo Kai lag. Ein Pochen oder Klopfen, als wenn ein Körperteil unkontrolliert um sich schlug und auf die Fliesen klatschte. Wieder dieses eklige, reißende Geräusch. Das Keuchen erstarb. Das Klatschen auch.
Larissa, tu etwas!
Es schrie in ihr. Aber nur in ihr.
Komm schon, komm schon!
Sie bündelte all ihre Energie.
Mach Larissa!
Ein kleiner Schatten löste sich aus der tiefen Dunkelheit und huschte ins Zwielicht, verharrte dort und schlich dann linkisch auf sie zu. Ein Klirren. Ein Messer, das zu Boden fiel. Ein scharfes, spitzes Messer bestimmt. Das Messer, mit dem Löcher in Kai gestoßen wurden, so dass Luft aus ihm entweichen konnte.
Larissa! Tu was!
Sie schrie.
»KAI! HILFE!«
Mit dem Schrei löste sich die Paralyse. Sie schoss herum, griff nach der Sicherheitstür, zog sie auf und etwas landete auf ihrem Rücken, griff in ihre Haare, riss daran. Ein stechender Schmerz in der Schulter. Ein Geruch nach Fäulnis und frischem Blut wehte ihr ins Gesicht. Kurz erblickte sie ES und in diesem Moment konnte sie alle Ängste ihrer Patienten, alle Ängste und die Folgen dieser Ängste, das Schreien, das Schnippeln, das
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