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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition)
Autoren: Vincent Voss
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Viktor schnaufte. Jeder Schritt aufwärts strengte ihn an, sein Hemd klebte ihm am Körper.
»Du bist aber ganz schön unfit«, bemerkte Larissa um Neutralität bemüht.
»Wie meinst du das?«, pustete er hervor. Lauernd.
»So, wie ich es sage. Letztes Jahr im Harz hast du nicht so geschnauft.«
Letztes Jahr im Harz wog er 165 und nicht 172,3 kg. Aber das konnte Larissa nicht wissen.
»Ist – auch – nichts. Hab’s auf den Bronchien.«
Er legte eine Pause ein, stützte sich mit den Armen auf seinen Oberschenkeln ab und sah zur Spitze des Hügels. Der Schweiß lief ihm die Schläfen entlang und von seiner Stirn in die Augen. Sie schwieg und wartete neben ihm. Er richtete sich wieder auf.
»Los! Weiter geht’s!«
Den Weg nach oben legte er ohne weitere Pause zurück. Auf dem Gipfel kühlte ihn ein leichter Wind. Der Blick auf die Lübecker Bucht entlohnte für die Strapazen. Auf dem kräftigen Blau der Ostsee bewegten sich weiße und bunte Punkte, gemächlich durchquerten größere Schiffe die See und stoben die Segler auseinander. Der Himmel strahlte in einer Farbe, wie man sie nur zum Ende des Sommers kannte und Viktor sog das Gefühl des bevorstehenden Jahreszeitenwechsels ein und genoss es mit geschlossenen Augen. Er legte den Arm um Larissa, zog sie zu sich und sie legte den Kopf an seine Seite.
Später lagen sie nebeneinander rücklings auf den Picknickdecken inmitten eines Steinkreises, zwischen ihnen eine Flasche Wein, drei italienische Salamistücke, Hartkäse, Ciabatta, Weintrauben und verschiedene Dips, die Viktor angerührt hatte. Larissa hatte wenig gegessen, er dafür umso mehr. Satt lag er auf dem Rücken, Hand in Hand mit Larissa, lauschte den Grillen und den sich über ihnen im Wind bewegenden Blättern und sah zeitlos der sich nähernden Dämmerung zu.
»Du schnaufst«, bemerkte Larissa.
Er schlug die Augen auf, fast wäre er eingeschlafen.
»Wie?«, fragte er, ohne sich zu rühren.
»Du schnaufst, wenn du liegst.«
Er antwortete nicht, sondern analysierte die feinen Frequenzen des Tons ihrer Feststellung. Es war kein Angriff, keine Spitze, vielmehr hörte er Sorge in ihrer Stimme. Und Liebe. Sie drückte seine Hand und streichelte mit ihrem Daumen seine Handfläche.
»Ich bin schwerer (dicker und fetter!) geworden.«
Sie wartete mit einer Antwort.
»Ich weiß«, sagte sie dann.
Seine Geheimhaltung hatte ein Ende, das erlöste ihn. Andererseits stieg der Druck, etwas dagegen (gegen seine FETTleibigkeit!) zu unternehmen. Er ließ ihre Hand los und tastete nach einem Salamistück, griff es, pulte die Haut ab und biss hinein. Sie drehte sich zu ihm, stützte sich auf einen Ellenbogen ab und beobachtete ihn. Er wurde sich der Salami bewusst, legte das Stück zurück, kaute, schluckte und erwiderte ihren Blick. Sie sah bombastisch aus! Er liebte sie und fragte sich, leider immer häufiger, ob sie seine Liebe erwiderte. Denn, wo sie seit ihrer Zweisamkeit ihre Attraktivität beibehalten hatte, wenn nicht sogar steigern konnte, fühlte er sich immer hässlicher, minderwertiger, schlechter. Sein Elan der Jugend hatte unbemerkt die Koffer gepackt und war verreist, ohne eine Nachricht, wenigstens einen Zettel auf dem Küchentisch, hinterlassen zu haben. Stattdessen mochte er seine Arbeit nicht mehr, sich nicht mehr, sein Leben nicht mehr und fühlte sich wie ein Bremsklotz für seine Frau und wie ein lächerliches Wesen aus der Kuriositätenmenagerie für seine Tochter. ›Das ist DEIN Vater! Oh, Gott!‹
Wäre er nicht mehr, würde Daniela aufrichtig bedauert werden, Larissa würde einen neuen, attraktiven Mann an ihrer Seite finden, mit dem sie morgens joggen konnte, der mit ihr Obst und Müsli frühstücken würde, nicht nur aus Liebe, sondern aus ernst gemeintem Interesse, der sie begeistern konnte. Das war es. Der sie begeistern konnte, denn dazu fehlte ihm einfach alles.
»Du weinst ja«, stellte sie fest.
Er hatte zu tief eingeatmet und ein Schluchzen verriet ihn. Sie streichelte seinen Kopf. Seinem ersten Impuls, sie abzuweisen, widerstand er und es brach aus ihm heraus. Er weinte ohne Hemmungen und die letzten Jahre seines aufgestauten Frustes bahnten sich einen Weg aus ihm.
»Ist ja gut«, tröstete Larissa ihn, überrascht durch die Heftigkeit des Ausbruchs, überrascht auch durch die Art des Ausbruchs. Sie hatte Viktor das letzte Mal weinen sehen, als Daniela auf die Welt gekommen war. Seither war er entweder wütend gewesen oder er hatte sich zurückgezogen.
»Ist gut.«
Sie nahm seinen Kopf in
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