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172,3 (German Edition)

172,3 (German Edition)

Titel: 172,3 (German Edition)
Autoren: Vincent Voss
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Hielt ihm Stand.
»Es ist nichts. Nichts Schlimmes, Schatz. Ich erzähl es dir, wenn ...«
Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Hast du dich gewogen?«
Er konnte ihr nichts vormachen. Langfristig nannte man das Liebe. In Momenten der harten, schonungslosen Wahrheit hasste er sie für diese Gabe, wie in einem Buch in ihm lesen zu können.
»Scheiße, nein! Was geht dich das an gerade?«
Wut kochte in ihm hoch und suchte ein Ventil.
»Schon gut.« Sie schüttelte den Kopf, stand auf. »Ich muss los. Ich seh´ dich dann heute Abend, Vic.«
Sie wollte sich mit einem Kuss auf die Stirn verabschieden, aber er wandte sich ab und schwieg. Er hörte, wie sie ihre Schuhe anzog, die Schlüssel vom Telefontisch nahm und die Tür zuzog.
Stille.
Stille Verzweiflung in ihm.
Das Rührei kühlte ab. Er belud sich einen Löffel, schob ihn in den Mund und kaute.
Etwas ändern ... oder es sein lassen. Wie oft hatte er es sich vorgenommen? Allein wegen Daniela, seiner Tochter. Jedes Kilo verkürzte Lebenszeit. Und die Kommentare, die sie jetzt im Alter von 14 Jahren nervten. `Mann, hast du einen fetten Alten!´
»Mist!«, fluchte er, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und fasste einen Entschluss.
Er nahm den Teller, stand auf, öffnete die Klappe unter dem Spülbecken und schob mit dem Messer sein Frühstück in den Mülleimer.
Kurz danach aß er – aus einem Impuls und zur Beruhigung seines Hungers – zwei dicke Scheiben Schweinebraten (mit Kruste) und Remoulade.
*
Es waren die letzten heißen Tage der Sommerferien.
Daniela übernachtete bei einer Freundin und er schlug Larissa vor, abends einen Ausflug zu unternehmen, nachdem ihr Dienst im Krankenhaus beendet sein würde. Sie freute sich und er sah sich bis zu ihrer Ankunft seine Mails an. Seine Mails über seinen Schul-Account.
Bei dem Gedanken an das neue Schuljahr wurde ihm flau im Magen. Nicht, dass er seinen Beruf hasste, aber »Arbeiten« mochte er generell nicht. Mit dieser Meinung stand er im Kollegium ziemlich allein da. `Was willst du denn dann machen? Den ganzen Tag nur auf der faulen Haut liegen?´ , waren die häufigsten Gegenfragen. Und seine sensiblen Antennen zu seinem Lieblingsthema »Übergewicht« nahmen dann immer einen taxierenden Blick des Gegenübers zu seinem Körperumfang wahr.
Er klickte sich durch seinen Posteingang und las eine Mail sorgfältig: die neuen Teilnehmer zur Ausbildung des Kfz-Mechatronikers. Seine neue Klasse, 16 Auszubildende im kommenden Jahr. Schon wieder rückläufig, aber es ging. Eine Mail von seinem Vorgesetzten, dem Schulleiter Kirschstein. Betreff: Mit Elan ins neue Schuljahr. Er könnte kotzen. Er nahm ein Salzgebäck, schob es sich in den Mund, öffnete die Mail, überflog sie erst und konzentrierte sich dann.
Einige seiner kommenden Schüler brachten einige Akteneintragungen mit. Bedrohung mit einem Messer, Vorwurf der versuchten Vergewaltigung, Volksverhetzung, KfZ-Diebstahl (er musste grinsen), schwere Körperverletzung (das Grinsen erstarb).
Er lehnte sich zurück, aß zwei weitere Kekse und sinnierte. Das würde ein beschissenes Jahr werden. Solche Kandidaten hatte er schon lange nicht mehr gehabt und ehrlich gesagt, stresste es ihn mit zunehmendem Alter (und Gewicht) auch mehr.
Er fuhr den Rechner herunter, drückte sich aus seinem Bürostuhl und ging ins Wohnzimmer, um den Rest der Zeit in schattiger Kühle auf der Couch zu schlafen.
*
»Hier?«, fragte Larissa.
»Ja«, ächzte er und zog sich am Holm aus dem Auto.
Ein Feldweg führte von der Straße ab. Links lag ein Rapsfeld in voller Blüte, rechts stieg ein dicht bewaldeter Hügel an. Er nahm den Rucksack aus dem Wagen und schloss die Tür.
»Wie bist du denn darauf gekommen?«
Larissa kannte sich in der näheren Umgebung von Lübeck aus, sie war hier groß geworden, aber von dem Taschensee hatte sie jetzt das erste Mal gehört.
»Das ist eine alte Pilgerstrecke gewesen. Von Fehmarn nach Lübeck«, erklärte er und beschritt den Feldweg. Mücken umschwärmten ihn.
»Und das«, er deutete auf den Feldweg, »ist ein alter Postweg, der nach Lübeck führte. Paul hat mir den Tipp gegeben, er geht im Herbst hier manchmal Angeln.«
Mit zwei Picknickdecken unter dem Arm folgte ihm Larissa, weit weniger von Mücken geplagt als er. Der Weg wand sich zwischen Hügel und See. Erst führte er zum See hinab, um dann durch den Wald bis auf den Hügel hinauf zu führen. Es war drückend. Ziegenmelker jagten den Mückenschwärmen nach und Grillen begannen ihr Abendkonzert.
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