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1588 - Die falsche Kette

Titel: 1588 - Die falsche Kette
Autoren: Unbekannt
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rüttelte an den Zweigen des Kima-Strauchs. Hunderte von weißen Blütenblättern lösten sich und trieben davon. „So wie diese Blütenblätter müssen unsere Vorfahren sich gefühlt haben!" flüsterte Dorina Vaccer.
    Sie erinnerte sich an die Gleichgewichtsstörungen, unter denen sie bis vor wenigen Tagen gelitten hatte. Sie zitterte vor Angst bei dem Gedanken, daß diese Anfälle zurückkehren könnten.
    Sie wußte jetzt, worum es sich dabei gehandelt hatte.
    Die Überlebenden der Katastrophe hatten Schlimmeres als nur einen simplen Schock davongetragen: Ihre Gene waren verändert worden. Das bekamen die Linguiden noch bis auf den heutigen Tag zu spüren.
    Der Hyperraum war nichts, was isoliert in weiter Ferne existierte, sondern die fünfte Dimension war allgegenwärtig. So, wie der Raum in die Zeit gebettet war, war die Zeit in die fünfte Dimension geschmiegt.
    Nur wenige lebende Wesen waren imstande, diese fünfte Dimension wahrzunehmen.
    Was für eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet wir Linguiden dazugehören! überlegte Dorina Vaccer bitter. Und welch grandiose Verschwendung, denn wir werden niemals etwas mit dieser Fähigkeit anfangen können!
    Die Tragik der Linguiden bestand darin, daß die fünfte Dimension außerhalb ihres Begriffsvermögens lag: Sie hatten keine Worte, mit denen sie den Hyperraum hätten beschreiben können.
    Die erste Funktion der Sprache, dachte Dorina Vaccer. Sprache dient zuerst der Definition des eigenen Seins.
    Mit Hilfe von Begriffen definieren wir, wer, was, wie, wo und wann wir sind. Aber wir haben keine Begriffe für eine fünfte Dimension. Hat man keine Begriffe, dann kann man auch nichts begreifen. Wir nehmen die fünfte Dimension wahr, ohne zu wissen, wie wir unsere Wahrnehmungen beschreiben sollen.
    Sie konnte es auch jetzt nicht: Sie fand keinen Vergleich, keine Umschreibung, die dem, was sie gespürt und gesehen hatte, auch nur annähernd entsprochen hätte.
    Nur die Erinnerung an die grauenvollen Augenblicke totaler Desorientierung war geblieben.
    Als hätte ich mich zu weit vorgebeugt und dabei zu tief in einen Abgrund geschaut, wiederholte sie in Gedanken einen Vergleich, der ihr recht treffend zu sein schien. Aber da war kein Abgrund, sondern ... Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Die Nakken haben sicher Begriffe dafür, aber auch das sind Begriffe der fünften Dimension.
    Es hätte keinen Sinn, die Nakken nach diesen Begriffen zu fragen - ich würde die Antworten nicht verstehen.
    Dorina Vaccer blickte auf die Tasche, die sie neben sich ins Gras gestellt hatte.
    In dieser Tasche befand sich der Zellaktivator.
    Und der Zellaktivator war der Schlüssel zum Verständnis der fünften Dimension. „Warum hast du mir dieses verdammte Ding gegeben?" schrie Dorina Vaccer in plötzlicher, ohnmächtiger Wut zum Himmel hinauf. „Hat dir dieses Spiel Spaß gemacht?"
    Mit der Verleihung des Zellaktivators hatte ES ihr nicht nur die angebliche Unsterblichkeit gegeben, sondern ES hatte ihr gleichzeitig eine Gelegenheit verschafft, ihr Weltbild um eine zusätzliche Realität zu erweitern.
    Aber sie hatte diese Gelegenheit nicht nutzen können.
    Der Verlust der Unsterblichkeit schmerzte die Friedensstifterin nicht so sehr wie die Erkenntnis, daß sie niemals eine Chance erhalten würde, diese andere, fremde Realität der fünften Dimension zu begreifen. „Du mußt doch gewußt haben, welch verheerende Wirkung fünfdimensionale Wahrnehmungen auf unser Kima haben würden!" sagte die Friedensstifterin zornig. „Eine Superintelligenz kann nicht so unverantwortlich sein, daß sie so etwas nicht überprüfen würde!"
    ES antwortete nicht.
    Natürlich nicht.
    Dorina Vaccer hatte von Anfang an keine großen Hoffnungen in diesen Versuch gesetzt, aber die Lage der Linguiden war so verzweifelt, daß die Friedensstifterin keine noch so kleine Chance ungenutzt zu lassen wagte.
    Dorina Vaccer öffnete die Tasche und nahm den Zellaktivator heraus. Sie behielt ihn in der Hand und wartete.
    Dabei fühlte sie sich, als bewege sie sich auf einen Abgrund zu.
    Ihr wurde schwindelig.
    Sie dachte an das Denkmodell, das die Linguiden benutzten und das Adonor Cyrfant darzustellen versucht hatte, rief sich das Bild vor Augen, bis sie es in allen Einzelheiten erkennen konnte: Das Weltbild als ein Brett, auf dem die Begriffe in Form Tausender von Kristallen bereitlagen.
    Jeder dieser Kristalle wies die ganze Vielfalt seiner möglichen Bedeutungen auf, jede einzelne Bedeutung identisch mit
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