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130 - Die Hexe mit dem Todesatem

130 - Die Hexe mit dem Todesatem

Titel: 130 - Die Hexe mit dem Todesatem
Autoren: A.F.Morland
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trat er zurück und nickte ernst. Seine Brüder setzten die Arbeit fort. Als die Mauer Brusthöhe erreichte, schlug Inaza die Augen auf.
    Ihr Blick war glasig. Sie schien sich im Delirium zu befinden, schrie nicht mehr, weinte nicht, bekam anscheinend nicht mit, was mit ihr geschah.
    Ihr Geist schien sich in weiter Ferne zu befinden. Sie sah glücklich aus. Ein kleines Lächeln umspielte ihre vollen, roten Lippen. Schläfrig bewegte sie den Kopf hin und her.
    »Es geht mir gut«, kam es dünn aus ihrem Mund. »Alles ist so leicht. Ich schwebe, bin glücklich. Herr der Welten, ich komme. Nimm mich auf in deine starken Arme und halte mich fest - und gib mich erst wieder frei, wenn du es für richtig hältst. Bis dahin laß mich bei dir sein. Ich werde schlafen und zufrieden sein, s-c-h-l-a-f-e-n bis der Tag der Wiedergeburt anbricht!«
    »Macht schneller, Brüder!« sagte der Mönch, der das Hexenamulett an sich genommen hatte. »Ich kann ihre Stimme nicht mehr ertragen.«
    »Sie rechnet mit einer Wiedergeburt.«
    »Dazu wird es nicht kommen.«
    Die letzten Steine wurden aufgesetzt, die Fugen verschmiert. Vielleicht redete Inaza immer noch, aber es war nicht mehr zu hören.
    Man klatschte den Feinputz gegen die frische Wand und verrieb ihn zu einer glatten, feuchten Fläche.
    Ja, Inaza würde schlafen.
    Ewig schlafen…
    ***
    Vor mehr als zweihundert Jahren war Inaza eingemauert worden. Die Männer, die dieses unvermeidbare Werk verrichtet hatten, lebten schon lange nicht mehr, aus dem Kloster hatte man zuerst eine Schule gemacht, dann eine Unterkunft für Obdachlose - und nun stand es leer.
    Das Hexenamulett war durch viele Hände gegangen, war gestohlen und immer wieder verkauft worden. Es hatte den guten Menschen Unglück, den schlechten aber Glück gebracht.
    Irgendwann war es außer Landes geschmuggelt worden, und über Spanien und Frankreich war es nach England gekommen - während die Hexe schlief.
    Nun hatten Zigeuner im Klosterhof ihr Lager aufgeschlagen. Die klapprigen Wohnwagen waren im Karree aufgestellt, und in der Mitte brannte ein hohes Feuer.
    Nirgendwo ist der Aberglaube tiefer verwurzelt als in der Seele eines Zigeuners, sagt man.
    Andere wiederum behaupten, Zigeuner hätten Begabung zum Übersinnlichen, deshalb betätigten sie sich oft als Wahrsager, Kartenleger oder Wünschelrutengänger. Sie lasen den Menschen aus der Hand, und so mancher von ihnen verstand sich auf Zauberei und beherrschte magische Riten.
    Das galt vor allem für die alten Zigeuner. Sie waren genügsam und führten ihr Außenseiterleben, dieses antiquierte Nomadendasein, zufrieden. Der Himmel war das Dach über ihrem Kopf, das ganze Land ihr Zuhause. Sie paßten nicht in die neue Zeit, und sie wußten, daß sie eines Tages aussterben würden.
    Doch solange sie lebten, hielten sie ihre Traditionen hoch. Zigeunerehre und Blutrache waren für sie keine leeren Worte. Sie hatten ihren Stolz, und den durfte niemand verletzen.
    Obwohl sie arm waren, verstanden sie es, wilde Feste zu feiern, und niemand fragte danach, woher das Fleisch kam, das sie aßen, woher der Wein kam, den sie tranken.
    Irgend jemand hatte auf sein Eigentum nicht gut genug aufgepaßt. Es war allein seine Schuld, daß man ihn bestohlen hatte.
    Fröhliche Weisen wurden aufgespielt - auf alten, zerkratzten, notdürftig ausgebesserten Instrumenten. Es wurde gelacht, gesungen und getanzt.
    Das Lagerfeuer warf lange, unruhige Schatten gegen das einstige Kloster, das schon lange niemand mehr geweiht hatte.
    Boro, ein junger, feuriger Zigeuner, tanzte mit Mehta, seiner Freundin, hinter die Wohnwagen. Sie lachte atemlos. »Ich kann nicht mehr, Boro. Du bist so wild, so stark. Du könntest die ganze Nacht durchtanzen, ohne müde zu werden.«
    »O ja, das könnte ich«, sagte Boro. »Aber nur mit dir. Ich liebe dich, Mehta.« Er küßte sie leidenschaftlich, preßte sie so fest an sich, daß sie keine Luft bekam.
    Sie drückte ihn von sich. »Wenn mein Vater uns sieht, bringt er dich um.«
    »Denkst du, er weiß noch nicht, daß wir zusammengehören? Er ist doch nicht blind.«
    »Vielleicht ahnt er etwas, aber solange du nicht mit ihm gesprochen hast, darfst du mich nicht auf diese Weise küssen.«
    »Dein Vater hat altmodische Ansichten. Heute tun die jungen Leute, was sie wollen. Man nimmt nicht mehr so viel Rücksicht auf die Alten wie früher.«
    »Findest du das richtig?«
    »Ja. Den Jungen soll die Welt gehören. Die Alten hatten sie schon lange genug«, behauptete
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