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120 - Sterben in Berlin

120 - Sterben in Berlin

Titel: 120 - Sterben in Berlin
Autoren: Jo Zybell
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Tilmos Schritte hallten erst im Tor, dann hörte man sie auf der steilen Wendeltreppe des Wehrturms. Zwei Atemzüge später schlüpfte er aus dem Türbogen auf den Wehrgang. Immer noch im Laufschritt kam er zur Gruppe um die Königin, verbeugte sich kurz vor allen, tief und lang vor der Königin, und reichte Johaan schließlich ein kleines versiegeltes Kuvert.
    Der Berater brach das Siegel auf, entfaltete den Brief und las. Es war eine Nachricht von Rudgaar, dem Hundemeister.
    Rudgaar arbeitete für Johaan als Spion in Pottsdam. Der Erste Königliche Berater hütete sich, den Namen in Gertruuds Gegenwart zu nennen; er traute seiner Konkurrentin nicht über den Weg.
    Während er den Brief las, verfinsterte sich seine Miene, und Falten zerfurchten seine Stirn. »Der Pottsdamer Stammesfürst will Braandburg angreifen.« Johaan ließ den Brief sinken. »Die Heerzüge nach Osten und Norden sind Täuschungsmanöver. Außerdem ist Siimn, der Botschafter des Fürsten, heute Morgen von Pottsdam nach Beelinn aufgebrochen. Er hat eine diplomatische Note für die Königin in seinem Reisegepäck.«
    »Eine Kriegserklärung?« Jennys Augen verengten sich zu Schlitzen, eine steile Falte grub sich zwischen den Brauen in die Haut.
    »Mein Informant ist sich nicht ganz sicher. Er vermutet eher ein Bündnisangebot.«
    »Na bitte.« Gertruud bedachte Bulldogg mit einem verächtlichen Blick. »Hab ich’s nicht gesagt?«
    ***
    »Schneller, Bullo! Höher, Bullo!« So nennt sie ihn schon, seitdem sie sprechen kann. Weit schwingt sie zurück, dass sie für einen Augenblick Bulldoggs Stiefelspitzen sehen kann.
    Dann fühlt sie wieder seine Hände auf ihrem Rücken, seine großen starken Hände. »Höher, Bullo! Schneller, Bullo!« Die großen starken Hände stoßen sie an. Die Deckenhaken quietschen, das Schaukelbrett fliegt.
    Weg sind die Stiefelspitzen, der Steinboden unter ihr fliegt dahin, der schwarze Canada fliegt dahin, die Treppe, der Junge an der Balustrade, der Saal darunter, Jennymom und ihre Freunde, und dann kann sie den Deckenleuchter schon fast mit den Zehenspitzen berühren. »Yea, Bullo! Yea, das ist schön!«
    Irgendetwas tanzt in ihrem kleinen Bauch, etwas kitzelt da.
    Und zurück geht es: Jennymom mit Miouu, Gertruud und Johaan im unteren Saal, die Treppe, der Junge an der Balustrade, der schwarze Canada, Stiefelspitzen, und wieder Bullos Hände. »Noch schneller, Bullo! Noch höher!«
    »Ich muss nach Hause, Anniemouse!«, ruft Bullo. »Meine Kinder warten. Und meine Frau.«
    Alle, die sie lieben, nennen sie Anniemouse. »Nur noch ein Mal!«, piepst sie. Und wieder Bullos starke Hände, wieder ein Schubs und wieder gleiten Boden, Hund, Junge und Jennymom unter ihr dahin, und sie schießt hinauf, der Decke und dem Leuchter entgegen.
    Draußen prasselt Regen in die Laubdächer der Fruchtbäume und auf die Fenstersimse. Donner grollt. Wudans Götterheer rüstet sich zum Kampf, würde Miouu sagen, ein Gewitter, würde Jennymom sagen. Was Dad wohl sagen würde?
    Während sie zurück schwingt, wird im Saal unten eine Tür geöffnet. Palastwächter führen einen Mann und eine Frau hinein. Ann hält den Atem an: Der Mann sitzt in einem Wagen, und die Frau schiebt den Wagen! Der Junge an der Balustrade dreht sich um und blickt in den Saal hinab. Canada steht auf, trottet zu ihm und bellt ein paar Mal.
    Und hinunter geht es – wie schön das kitzelt im Bauch! Die Kette rasselt, die Scharniere quietschen, dann wieder Bullos Hände, und dann wieder hinauf. Sie späht hinunter – tatsächlich: Der alte Mann da unten sitzt in einem Stuhl auf Rädern und die junge Frau schiebt den Radstuhl zu Jennymom, Johaan, Gertraud und Miouu.
    Gertraud sagt Ann zu Anniemouse. Manchmal auch Prinzessin. Gertraud ist eine Zicke, sagt Bullo manchmal.
    »Zicke, Zicke, Zicke«, flüstert Anniemouse. Sie weiß nicht genau, was eine Prinzessin ist, sie weiß auch nicht genau, was eine Zicke ist, sie weiß aber genau, dass Gertraud bald aus dem Palast verschwinden wird. Und aus Beelinn auch. Niemand hat es ihr gesagt, sie weiß es einfach. Wudan sei Dank, wie Bullo manchmal sagt. Oder: Gott sei Dank, wie Jennymom manchmal sagt.
    »Jetzt ist gut!«, ruft Bullo. Er läuft an ihr vorbei, winkt und stapft die Treppe hinunter. Er hat nur vier Finger an jeder Hand, nur noch ein Auge und nur noch zwei Zähne. Die Leute sagen, er sähe aus wie ein Hund. Nicht wie Canada, sondern wie eine Bulldogge. Vielleicht haben sie Recht, die Leute, Ann weiß nicht, wie eine
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