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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht
Autoren: Elizabeth George
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würde sich wieder lösen und ihr Leben in die Hand nehmen.«
    »Genau. Aber sie hat sich nicht gelöst«, entgegnete Deborah. »Weil es schwer ist, sich zu lösen, wenn man die Fakten nicht kennt.«
    »Aber sie kannte die verdammten Fakten. Sie wollte sie nur nicht sehen. Herrgott noch mal! Warum konnte sie nie loslassen? Immer hat sie alles in sich reingefressen. Und nie konnte sie sich damit abfinden, dass die Welt eben nicht so ist, wie sie fand, dass sie sein sollte.«
    Deborah wusste, dass er zumindest in einer Hinsicht Recht hatte: China hatte immer aufgerechnet und immer das Gefühl gehabt, ihr stehe mehr zu als tatsächlich im Angebot war. Deborah hatte das auch in ihrem letzten Gespräch mit ihr erkannt: Sie hatte zu viel von den Menschen erwartet, vom Leben. Und in diesen Erwartungen hatte der Keim der Selbstzerstörung gelegen.
    »Und das Schlimmste ist, dass sie es gar nicht hätte tun müssen, Debs«, sagte Cherokee. »Kein Mensch hat sie zu irgendwas gezwungen. Er hat's versucht, und ich hab die beiden zusammengebracht, ja. Aber sie hat mitgemacht. Sie hat immer weiter mitgemacht. Wo ist da bitte meine Schuld?«
    Auf diese Frage hatte Deborah keine Antwort. Zu viele Schuldzuweisungen waren im Lauf der Jahre zwischen Angehörigen der Familie River hin und her geschoben worden.
    Es klopfte kurz an der Tür, und dann trat Simon ins Zimmer. Er hatte, so hoffte sie, die Papiere bei sich, die zu ihrer Entlassung aus dem Princess Elizabeth Hospital nötig waren. Er nickte Cherokee zu, richtete seine Frage jedoch an Deborah.
    »Bereit zum Heimflug?«
    »So bereit wie nie«, sagte sie.

32
    Frank Ouseley wartete bis zum 21. Dezember, dem kürzesten Tag des Jahres. Die Sonne würde früh untergehen, und er liebte den Sonnenuntergang. Er fühlte sich wohl in seinen langen Schatten, die ihn vor neugierigen Augen schützen würden. Er wollte bei diesem letzten Akt seines persönlichen Dramas nicht beobachtet werden.
    Um halb vier nahm der das kleine Paket zur Hand. Die Pappschachtel stand auf dem Fernsehapparat, seit er sie von St. Sampson mit nach Hause gebracht hatte. Die Klappen waren mit Klebeband verschlossen gewesen, aber Frank hatte das Band zuvor abgelöst, um den Inhalt der Schachtel zu überprüfen. Was von seinem Vater geblieben war, war in einem Plastikbeutel verwahrt. Asche zu Asche und Staub zu Staub. Die Farbe der Substanz lag irgendwo zwischen diesen beiden, heller und dunkler zugleich, hier und dort von der scharfen Linie eines Knochensplitters durchzogen.
    Er wusste, dass irgendwo im Orient die Leute die Asche der Toten säuberten. Die ganze Familie versammelte sich, und mit Stäbchen hoben sie alle Knochenreste heraus. Er wusste nicht, was sie mit diesen Knochenfragmenten anstellten - wahrscheinlich verwahrten sie sie in Reliquienschreinen, ähnlich wie man früher die Knochen der Märtyrer aufbewahrt hatte. Aber Derartiges hatte Frank mit der Asche seines Vaters nicht vor. Was an Knochensplittern noch in ihr enthalten war, würde dort seinen Platz finden, wo Frank die sterblichen Überreste seines Vaters zu hinterlassen zu gedachte.
    Er hatte zuerst an den Stausee gedacht. Der Ort, wo seine Mutter ertrunken war, hätte seinen Vater mühelos aufnehmen können, selbst wenn er die Asche nicht ins Wasser streute. Dann zog er das Stück Land neben der St.-Saviour's-Kirche in Erwägung, wo das Kriegsmuseum hätte stehen sollen. Aber er fand, es wäre ein Sakrileg, seinen Vater an einem Ort zurückzulassen, wo Männer hatten geehrt werden sollen, die so gar nichts mit ihm gemein hatten.
    Bedachtsam trug er seinen Vater zu seinem Peugeot hinaus und platzierte ihn auf dem Beifahrersitz, umwickelte ihn fürsorglich mit einem alten Badetuch, das er als Junge benutzt hatte. Ebenso bedachtsam fuhr er aus Talbot Valley hinaus. Die Bäume waren jetzt kahl, nur die Steineichen am sanft ansteigenden Südhang des Tals waren noch belaubt. Aber selbst hier lagen reichlich Blätter auf dem Boden und bildeten einen Teppich in Safran und Umbra unter den dicken Stämmen der Bäume.
    Im Talbot Valley, das tief in eine Landschaft sanfter Hügel eingebettet war, schwand das Tageslicht schneller als sonst irgendwo auf der Insel. In den Fenstern vereinzelter kleiner Häuser am Straßenrand brannten bereits die Lichter. Aber als Frank aus dem Tal herauskommend St. Andrew erreichte, veränderte sich die Landschaft und mit ihr die Beleuchtung. Weiden, auf denen die Guernsey-Rinder grasten, wichen landwirtschaftlich genutzten
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