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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn
Autoren: Ingo Behring
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weiter als ein «Krankentransport» wie so oft zuvor … Wie man sich doch täuschen kann.
    Manni und ich hatten Dienst. Manni hieß eigentlich Manfred und war Mitte dreißig, ein ewiger Sanitäter ohne Ambitionen, sich zum Rettungsassistenten fortzubilden. Zusammen saßen wir in der Unterkunft für die Rettungswagenbesatzung, die in dem unserer Feuerwache nahe gelegenen Bezirkskrankenhaus für uns eingerichtet worden war. Man war dort mehr oder weniger unter sich und konnte – sofern der Dienstbetrieb ordentlich erledigt wurde – seine Zeit frei einteilen. Aber als gemütlich konnte man den Ort nicht gerade bezeichnen: Er bestand aus einem Ruheraum mit zwei Betten (es war nicht so, dass wir dort schlafen würden, Feuerwehrleute «ruhen» ja nur!) sowie einem Dienstzimmer mit einem einzigen Bürotisch, der mit Computer, Drucker, Ablagekästen und Dienstanweisungen hoffnungslos überfrachtet war. Außerdem war dieser Bereich mit einem Fernsehgerät und einem kleinen Tisch ausgestattet, der schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Beide Einrichtungsteile waren vor einem abgewetzten roten Ecksofa drapiert, auf dem jetzt Manni saß und nachdenklich in einem Flyer der «Pizzeria um die Ecke» blätterte.
    «Salat?», überlegte er laut. «Nö, da bekomme ich bloß einen Vitaminschock … Aber die Calzone war letztes Mal gut. Die kannst du für mich bestellen. Du bestellst doch so gern.»
    Ich grinste Manni an. «Zugeklappt?» Man mag es nicht glauben, aber zumindest im Ruhrgebiet ist es nicht in allen Pizzerien selbstverständlich, dass eine Calzone (wörtlich: «Hose») zugeklappt in den Ofen geschoben wird. Auch das musste ich über die hiesige Kultur lernen, als ich vor … Also auf jeden Fall weit nach dem Krieg ins Ruhrgebiet zog, um meinen Traumberuf zu ergreifen.
    «Ja sicher, zugeklappt!» Manni grinste zurück.
    «Okay, also die Nummer 34 , groß, oder?»
    «Klar, groß. Ich will doch nicht verhungern.»
    «Und ich werde den Salat nehmen, den du für zu gesund hältst. Bin fett genug. Natürlich mit Dressing, und dazu Pizzabrötchen mit Kräuterbutter.» Dass der Versuch einer bewussten Ernährung mit dem Dressing und den fünfzig Gramm Kräuterbutter bereits im Ansatz scheiterte, musste ich wohl in Kauf nehmen, wenn auch ich satt werden wollte. Aber der gute Wille allein zählt ja schon …
    Gleichzeitig telefonierte ein aufgeregter Mann mit der Leitstelle der Feuerwehr – die in Nordrhein-Westfalen auch für den Rettungsdienst zuständig ist – und forderte einen Krankenwagen an. Wobei die meisten Anrufer, die «dringend einen Krankenwagen» verlangen, eigentlich einen für Notfälle ausgerüsteten Rettungswagen meinen. Der Anrufer fuhr fort:
«
Meine Frau, die ist schwanger … also, noch. Und jetzt hat sie Wehen, und die Fruchtblase ist eben geplatzt!»
    Der Leitstellendisponent musste herausfinden, wie dringend die Sache wirklich war. «Wann ist denn der errechnete Geburtstermin?»
    «Nächsten Dienstag! Jetzt kommen Sie aber doch schnell!»
    Während der Disponent die weiteren nötigen Informationen in Erfahrung brachte, tippte er sie parallel in den Rechner ein. Die endlose Fragerei mag für einen Anrufer, der aufgeregt ist und unter dem Eindruck eines Notfalls steht, zwar unverschämt und zeitverschwendend erscheinen. Manche fühlen sich auch nicht ernst genommen, wenn sie nach «Hallo, hier brennt’s!» nicht unmittelbar darauf im Hintergrund den Alarmgong hören. Aber der Leitstellendisponent der Feuerwehr muss sich erst ein möglichst genaues Bild machen, um die richtige Hilfe schicken zu können. Und die Adresse ist manchmal sehr von Vorteil.
    So erfragte unser Callcenter-Agent den Namen der Patientin, den des Anrufers sowie Straße und Hausnummer, bevor er auf seiner Computertastatur «Enter» drückte und ihm vom Einsatzleitrechner das Rettungsfahrzeug vorgeschlagen wurde, das sich in größter Nähe befand. Nach einem weiteren Knopfdruck besorgte der Leitstellenrechner den Rest: Die Piepser an unseren Gürteln klingelten in unsere abendliche Essensplanung hinein, der Alarmdrucker auf der Wache spuckte parallel ein Schreiben aus. « RET . Gyn. Notfall. Eggeweg 12 . Fruchtblase geplatzt», stand dort zu lesen. Übersetzt hieß das: Ihr sollt mit dem Rettungswagen eine Schwangere ins Krankenhaus bringen.
    Für gewöhnlich ist das, wie gesagt, wenig explosiv: Eine Geburt ist im Grunde kein «echter» Notfall. Hat man die werdende Mutter mit dem gepackten Täschchen in den Kreißsaal verfrachtet,
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