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112 - Der tägliche Wahnsinn

112 - Der tägliche Wahnsinn

Titel: 112 - Der tägliche Wahnsinn
Autoren: Ingo Behring
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fühlen, ob der Kopf des Kindes zu ertasten ist. Sie steckte sich den Finger ins Höschen und sagte deutlich: «Ja.»
    Shit!, dachte ich. Kann ich diesen Einsatz nicht noch schnell gegen einen anderen tauschen?
    Aussagen der Hebamme, die uns fortbildete, kamen mir in den Sinn. Wie war das? «In 99 Prozent der Fälle hat man genug Zeit, ins Krankenhaus zu fahren.» Okay, heute war anscheinend «ein Prozent». Die gelernte Information war also nutzlos. Und sonst? «Habt ihr keine Zeit mehr, weil die Geburt eingesetzt hat, geht es oft sehr schnell. Und fast wie von selbst.» Ah! Ein Silberstreif am Horizont. Ihre Erkenntnis musste nur noch auf unseren Fall zutreffen.
    In diesem Moment erschien Manni wieder auf der Bildfläche. « LF ist unterwegs.»
    «Ich glaube, das wird nichts mehr mit dem Transport», stellte ich fest. «Lass mal den Akademiker nachkommen. Ich denke, wir holen das Kind hier im Wohnzimmer …»
    Der Ehemann glich seine Gesichtsfarbe noch weiter der weißen Raufasertapete an, als er das hörte. Aber um wohl keinesfalls zu stören, gab er weiterhin keinen Ton von sich.
    Manfred war froh, eine neue Aufgabe fern vom direkten Geschehen zu haben. Er lief zurück zum Fahrzeug, um die Leitstelle über die geänderte Lage zu unterrichten. Sie sollte uns einen Notarzt schicken und das Notfallteam aus der Kinderklinik anfordern, das aus einem Kinderarzt, einer Hebamme und dem Inkubator, dem sogenannten Brutkasten, besteht, also einer Versorgungseinrichtung für Neugeborene. Währenddessen drapierte ich die Gebärende aus Platzgründen in eine günstigere Position auf dem Wohnzimmerteppich, zog ihr die Unterwäsche aus und klappte den Kinderkoffer auf, um das erforderliche «Werkzeug» auszupacken. Denn das hatte ich gleich zu Beginn meiner Lehre als Kfz-Mechaniker, die ich vor meiner Feuerwehrzeit absolvierte, noch vor dem obligatorischen Kopfschütteln beim ersten Blick unter die Motorhaube gelernt: «Hast du keine Ahnung, was du machen sollst – erst mal Werkzeug auspacken. So gewinnt man Zeit zum Überlegen.» Na dann: «Lass es kommen, Lady …»
    Erst einmal aber drückte das Kind mit dem Kopf den Darm der Mutter leer. So als Vorhut. Passiert schon mal. Roch prima. Aber da hinein will man ja kein Baby gebären. Weil der Vater so unbeschäftigt in der Tür stand und mir bei meinen Putzarbeiten zwischen den Beinen der Gebärenden langsam die Kompressen aus dem Koffer ausgingen, schickte ich ihn los, Küchentücher und einen Eimer zu holen. Als er wieder aufkreuzte, durfte er gleich ein weiteres Mal laufen: Mir war eingefallen, dass ich zum Säubern und Einwickeln des im Schritt der Mutter drängelnden Schreihalses später ein paar weitere Handtücher gebrauchen könnte. Außerdem war der nervöse Mann auf diese Weise beschäftigt. Auch was wert, weil er dadurch nicht um einen herumsprang. Das ist wohl der Grund, warum bei einer Geburt im Film immer nach heißem Wasser verlangt wird: Die Hebamme will sich keineswegs ein Ei kochen oder Skalpelle sterilisieren, aber der werdende Vater ist eine Weile abgelenkt. Nach einer Minute war er jedoch wieder da und wartete darauf, mehr tun zu können.
    Zwischenzeitlich tauchte Manfred erneut auf und stand, auf Befehle wartend, im Zimmer, so nach dem Motto: «Sonst rede ich dir zwar gern rein, aber ausnahmsweise überlasse ich dir heute die Führungsrolle.» Wie großzügig … Durch das mehrmalige Treppauf, Treppab standen auch ihm die Schweißperlen im Gesicht. Also sagte ich zu ihm: «Gib mir mal bitte das dicke Tuch aus dem Kinderkoffer. Und dann brauche ich Nabelklemmen. Und die Schere. Mach danach die Absaugung bereit. Hast du die kleine Beatmungsmaske schon gefunden? Gib mal ein Handtuch …» Und die hektische Sucherei zwischen all den steril verschweißten Tütchen und Verpackungen ging los.
    Das nachbestellte Löschfahrzeug, dessen Anfahrt nicht weit war, traf nach einigen Minuten ein. Die Köpfe der vier Kollegen, die eigentlich beim Tragen einer Patientin helfen sollten, erschienen nacheinander am Türpfosten des Wohnzimmers, um festzustellen, dass sie wohl gleich zwei Patienten zu transportieren hatten. Anschließend zogen sie sich mit Blockflötengesichtern in den Wohnungsflur zurück. Musste ja nicht sein, dass sich eine Horde Feuerwehrmänner um einen entblößten Unterleib versammelte, um die Mutter beim Pressen anzufeuern. Verständlicherweise konnte ihr das etwas unangenehm sein.
    Einer der Männer jedoch war Steffen, mit wenig Haaren und vielen
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