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0934 - Der Schlüssel zur Quelle

0934 - Der Schlüssel zur Quelle

Titel: 0934 - Der Schlüssel zur Quelle
Autoren: Simon Borner
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Schläfe berührte und sie dem sicheren Tod ein gewaltiges Stück näher brachte, wusste Jenny Moffat plötzlich, was ihr die Welt schon vor Monaten hatte beibringen wollen - damals in Dellinger's Point: Niemand konnte seinem Schicksal entkommen. Man mochte rennen, fliehen, Finten schlagen und versuchen, den Schnitter abzuhängen, doch über kurz oder lang stellten sich all diese Bemühungen stets als das heraus, was sie waren. Als raffinierte Selbsttäuschungen, die mehr Schaden als Nutzen brachten. Tot blieb eben tot, ganz egal wie lange man den eigentlichen Akt des Sterbens noch aufschob.
    SSDD, hatte Mike das mal genannt. Same shit, different day.
    Jeden Tag dieselbe Scheiße.
    Die schwielige Linke des Bären von Sträflings, der sie gepackt und auf das wacklige Podest gezerrt hatte, lag an ihrem Hals, unerbittlich wie eine Eisenfessel. Er hielt sie fest, damit sie die Menge sehen und damit die Menge sie sehen konnte. Warum? Welchen Zweck hatte es für Omar und seine Sache, wenn Jenny bei dieser bizarren Eskalation des Wahnsinns einen VIP-Platz bekam? Musste sie überhaupt dabei sein?
    Dann - trotz der Situation - bahnte sich ein dünnes Lachen seinen Weg aus ihrer Kehle. Lern doch endlich die Lektion, Mädchen. Du bist hier, weil du jetzt hopps gehst. Weil die Welt nicht mehr hält und das, was zu glauben du aufgezogen wurdest, nur Illusion ist.
    Sinn war ein Konstrukt, das von Hoffnung und Angst zusammengehalten wurde. Es zerbrach so schnell wie Reispapier. Oder wie Mike, der längst im Meer aus Leibern untergegangen war, das vor ihr im Lichthof tobte. Mike, der sich gewehrt hatte, bis zuletzt. Was war aus ihm geworden? Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass seine Kamera bis zuletzt gelaufen war. Und dass sein letzter Blick - der, bei dem er von der Meute verschluckt worden war, die ihn zweifelsfrei mittlerweile zerfleischte - ihr gegolten hatte. Jenny.
    Omar Little hob die Hand. Seine Zuckungen hatten nachgelassen. Jenny wusste nicht, ob das daran lag, dass der Anfall vorüber war, oder ob Omar mittlerweile stark genug war, die Anfälle leichter wegzustecken. Zwischen dem schmächtigen Mann, den sie zuvor im Besuchszimmer des Gefängnisses beobachtet hatte, und diesem Kerl dort vor ihr schienen Welten zu liegen.
    »Ruhig«, sagte er mit leiser, fester Stimme, und die Meute verstummte nahezu wie aufs Stichwort. »Ruhig, Leute. Wir sind fast am Ziel. Die Tore stehen uns offen; die Macht derer, die uns hinter diesen Mauern zu unterdrücken versuchten, ist gebrochen.«
    Abermals brandete Jubel auf. Jenny spürte, wie ihr der grobschlächtige Kerl mit dem Lauf der Waffe nahezu zärtlich die Wange hinab strich, dann den Hals… Seine freie Hand schob sich derweil unter ihre Bluse. Ein leises Wimmern wollte sich aus ihrer Kehle lösen, doch Jenny zwang es zurück. Sie würde nicht flehen. Nicht noch einmal.
    Omar Little stand da wie ein Priester, die Hände erhoben, einen nahezu gütigen Ausdruck im Gesicht. Und doch kam er ihr vor, als sei er nicht ganz da. Weggetreten. »Ihr habt die Unit unter eure Kontrolle gebracht«, setzte der Mann mit der Narbe seine Ansprache fort. »Und das war mehr, als euch die Mächtigen je zugetraut hätten. Lasst dies euch ein Beispiel sein. Glaubt nicht, was andere von euch erwarten. Hört nicht auf Vorurteile. Hört nicht auf Urteile !«
    Jubel. Ein Meer aus geballten Fäusten, aus vor Ekstase verzerrten Gesichtern. Jenny erschauderte bei dem Anblick, und der Hüne hinter ihr umfasste sie noch fester. Sie spürte seinen Atem in ihren Nacken, und ihr wurde übel.
    »Die alte Ordnung ist Vergangenheit.« Omar redete einfach weiter. »Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit. Einer, in der wir über unser Schicksal selbst bestimmen und uns nicht beurteilen lassen!«
    Erst jetzt bemerkte Jenny, dass sich sein ganzer Duktus geändert hatte. Weg waren das Genuschel und der Straßenslang, die verschluckten Endungen. Dies war eine Rede, wie sie kein ehemaliger corner boy gehalten hätte. Omar… war kaum mehr als eine Hülle, erkannte die Journalistin. Was immer ihn beeinflusste, musste sein altes, wahres Ich zur Seite geschoben haben.
    Und nun ging es auf die Zielgerade. »Geht hinaus und zeigt ihnen, aus welchem Holz ihr geschnitzt seid«, predigte das Omar-Ding zu seiner Gemeinde aus Gaunern, Mördern und anderen Verbrechern. »Geht hinaus und zeigt ihnen, dass ihr euch nicht länger sagen lasst, wer und wo ihr zu sein habt. Geht hinaus und bewirkt einen Unterschie…«
    Ein
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