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0931 - Shinigami

0931 - Shinigami

Titel: 0931 - Shinigami
Autoren: Susanne Picard
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zugeschlagen hat. Vielleicht ist hier das Opfer, das er hat liegen lassen.
    Der Shinigami, der es vorzog, nur für die Todgeweihten erkennbar zu sein, deren Seelen er ins Jenseits geleiten sollte, entschloss sich zögernd, sichtbar zu werden. So konnte er vielleicht als harmloser Passant erfahren, was hier vor sich ging.
    Er trat von hinten an die aufgeregt miteinander schnatternden Leute heran. »Entschuldigen Sie«, sagte er in perfektem Französisch zu einer elegant gekleideten Dame im geschäftsmäßigen Kostüm, die neben ihm stand. »Darf ich fragen, was hier vorgefallen ist?«
    »Nun, eine junge Dame ist hier auf dem Pflaster zusammengebrochen«, meinte die Dame ein wenig ungeduldig. Sie sah kaum zu ihm hin, aber genau das hatte der Shinigami beabsichtigt. Die Dame sah nicht mehr als einen asiatisch aussehenden gut gekleideten Gentleman, der nicht sonderlich spektakulär war. »Ich habe gerade einen Krankenwagen gerufen. Sie scheint lebendig, aber sie atmet kaum.« Der Shinigami betrachtete das Mädchen aufmerksam, das beinahe reglos auf dem grauen Straßenpflaster lag. Sie war klein, viel zu dünn und trotz des kalten Januarwindes nur leicht bekleidet und sah insgesamt so aus, als hätte ein starker Windstoß sie fortwehen können. In der Ferne waren die Sirenen eines Krankenwagens zu hören, die langsam näher kamen. Der Shinigami wusste, dass in der Nähe mehrere Krankenhäuser waren. So etwas spürte er - er hätte dort genug zu tun finden können -, aber er war nicht in diese Stadt geschickt worden, um gerade gestorbene Seelen zu begleiten.
    »Gut, dann ist der Notarzt ja wohl jetzt unterwegs«, meinte die Dame neben ihm geringschätzig, die ebenfalls kurz auf die Sirenen gelauscht hatte. Sie wies mit dem Finger auf das bewusstlose Mädchen, dem jemand eine zusammengeknüllte Jacke unter den Kopf geschoben hatte. »Sehen Sie sich mal an, wie dünn sie ist! Bestimmt ist sie ein Model. Die sind doch heutzutage alle magersüchtig. Ist das bei Ihnen in Asien auch so? Aber da sind sie ja von Natur aus etwas dünner, nicht wahr? Es ist wirklich eine Schande!«
    Der Shinigami hörte nicht mehr auf das Geplapper der Frau und sah wieder auf die bewusstlose junge Dame hinunter. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf sie. Das Mädchen kämpfte. Sie hatte kaum noch Lebenswillen in sich und der Shinigami spürte, dass da auch kaum noch Kraft in ihr war. Die Sanitäter und die Ärzte würden viel zu tun haben, den Körper so wiederherzustellen, dass ihre Seele weiterhin darin wohnen wollte.
    Viel tun konnte er nicht. Es stand nicht in seiner Macht, einer Seele den Übergang zu verweigern, wenn der Körper starb, doch diese Seele dort wollte leben. Er fand, sie hatte recht. Die Zeit dieser jungen Frau war noch nicht gekommen, und so schickte er ein Gebet an den ihm übergeordneten Geist. Diese junge Frau brauchte einfach etwas Unterstützung, damit die Seele dort blieb, wo sie war: in diesem zerbrechlichen Körper, der von irgendetwas Dunklem - wahrscheinlich dem Wesen, das er suchte - beinahe völlig entkräftet worden war.
    Auf einmal fuhr der Shinigami herum. Da war noch etwas, ganz hier in der Nähe. Der Dämon, den er suchte? Da kam auch schon der Krankenwagen angebraust und bremste mit quietschenden Reifen beinahe direkt neben dem japanischen Totengeist.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, hörte er auf einmal eine Stimme neben sich sagen. Die elegante Dame sah ihn besorgt an, doch der Shinigami achtete gar nicht darauf. Sein Blick glitt unruhig über die Menschenmenge, die sich versammelt hatte und fachmännisch zu beurteilen versuchte, wie die beiden Sanitäter wohl am besten der armen unterernährten jungen Frau helfen konnten.
    Schließlich blieb der Blick des Shinigami an einer Gestalt hängen, der am Rand der Menschenmenge an einer Hauswand lehnte. Er war schwarz gekleidet und fiel vor der altersdunklen Hauswand aus Sandstein gar nicht weiter auf. Kein helles Fädchen war an der dunklen, eleganten Kleidung der hochgewachsenen und leichenblassen Gestalt zu sehen, deren Geschlecht kaum einzuordnen war. Die Figur war schlank, beinahe mager, die goldfarbenen kurz geschnittenen Locken aus dem Gesicht gebürstet.
    Was den Shinigami aber am meisten irritierte, war, dass dieser Gestalt weite Schwingen aus großen rabenschwarzen Federn dem Rücken zu entwachsen schienen. Die Gestalt starrte ihn unverwandt aus bersteinfarbenen Augen unter goldfarbenen Wimpern an und kam schließlich zu ihm herüber.
    »Es
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