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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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glaub, der zittert. Ungläubig starrt Antoine nach vorn, und richtig: Die Schultern des kleinen Luc zucken unregelmäßig und in kurzen Abständen. Es ist, als würde er entweder gleich in Tränen ausbrechen, wie es Thierry zweifelsfrei beabsichtigt hat, oder aber…
    »Was ist denn, Curdin? Willst du zu Mama laufen und dich am Rockzipfel ausheulen?«, setzt Thierry nach, aber Antoine hat auf einmal ein sehr ungutes Gefühl bei dieser Sache. Letzten Sommer hat er im Urlaub einen Hund gestreichelt, der ihn plötzlich und völlig unprovoziert in den Arm gebissen hat. Und kurz vor diesem Biss hat Antoine das gleiche unangenehme Kribbeln im Bauch gespürt - so, als wisse er genau, dass gleich etwas Böses passiere. Nur nicht, was. Instinkt hatte der Arzt das genannt, erinnert sich Antoine. Instinkt.
    »Lecroix, hör mal«, beginnt er leise, doch Thierry ist nicht mehr zu bremsen.
    »Was denn?«, fragt er ungläubig. »Ist doch so! Guck ihn dir nur an, und du siehst, was für'n Weichei das ist. He, Curdin: Steht im Lexikon unter ›Vollspack‹ eigentlich dein Passfoto?«
    Wie bei dem Hund , schießt es Antoine durch den Kopf, immer und immer wieder. Wie bei dem Hund. Wie bei dem Hund. Er kann sich nicht erklären, warum, aber er spürt es kommen, spürt es mit jeder Faser seiner neunjährigen Existenz. Und er weiß, dass es Thierry treffen wird, dass der Hund diesmal Lecroix beißt, sozusagen. Nur wird dieser Biss keiner der Sorte, die man mit ein paar Spritzen, ein paar Nadelstichen und einem dicken Verband wieder gut machen kann.
    Es geschieht , und für Antoine geschieht es wie in Zeitlupe!
    Luc Curdin dreht sich um - und sein Gesicht, dieses harmlose, unschuldige Kleine-Jungen-Gesicht, das Antoine seit drei Jahren jeden Morgen in der Schule sieht, ist auf einmal zu einer Fratze des Hasses verkommen. Lucs Mundwinkel sind nach unten gezogen, seine Nase kaum mehr als ein zitternder Strich in einem zornigen Rot. Weiße Spuckebläschen haben sich auf Lucs Lippen gebildet, und seine Augen… seine Augen sind schwarze Diamanten, leuchtende Kugeln der Finsternis, in denen Antoine ein loderndes Feuer zu erkennen glaubt.
    Dann öffnet Luc den Mund, und seine Stimme ist kaum mehr als ein Zischen. »Du redest Scheiße, Lecroix«, sagt er langsam, und Antoine merkt, wie Thierry neben ihm zu Husten beginnt. »Weißt du das? Nichts als Scheiße.«
    Das Husten wird lauter, und als sich Antoine mit schreckgeweiteten Augen zu Thierry herumdreht, sieht er, wie der Junge langsam in die Knie geht. Er hält die Hände an den Hals gepresst, als wolle er etwas aus sich hinausreißen, das er nicht zu fassen bekommt.
    »Schnell, er braucht Hilfe«, ruft Antoine Luc zu, doch Curdin ist verschwunden, mit einem Mal unauffindbar. Als wäre er nie da gewesen.
    Dann spuckt Thierry den ersten von vielen Scheißehaufen auf den Bürgersteig, und als endlich ein Arzt kommt, um dem panisch röchelnden Jungen zu helfen, ist er schon erstickt. Lungenembolie, sagt der Arzt und schimpft Antoine wegen seiner »taktlosen und unappetitlichen Geschichte« aus. Am Abend bekommt Antoine von Papa noch mehr Schimpfe, und als er am nächsten Morgen zur Schule geht, hat er einen Entschluss gefasst, den er sein Leben lang nicht brechen möchte. Den Entschluss, von nun an den Mund zu halten und Luc Curdin aus dem Weg zu gehen.
    ***
    Lyon, Gegenwart
    Natachas Gesicht war wenig mehr als eine Mischung aus blasser, pickliger Haut und schwarzen Schlieren. In Sturzbächen liefen der pummeligen Siebzehnjährigen die Tränen über die Wangen und zogen Unmengen an Make-up und Wimperntusche mit sich. Sie schluchzte jetzt hemmungslos und war kaum noch zu verstehen. Nicht, dass Luc ihr geglaubt hätte, was sie da von sich gab.
    Dafür war ihre Geschichte einfach zu absurd. Etienne würde niemals… Nein, nicht Etienne.
    »Es… ging so… ging so scheißeschnell, ja?«, stammelte Natacha und rieb sich die laufende Nase am Ärmel des abgewetzten grünen Armeeparkas ab, den sie sich trotz der frühlingshaften Temperaturen um den fülligen Leib geworfen hatte. Wie einen Schutzschirm vor der Wirklichkeit. »Eben stand er noch neben mir… und dann…«
    Natachas Stimme brach abermals, und was sie sagte, war nicht länger als Sprache zu erfassen. Bei dem Käse auch nicht weiter schlimm , dachte Luc ungläubig, dann wandte er den Kopf und sah den anderen in die Gesichter. Sie waren sechs im Moment, sechs Leute, die sich schon am Königsdenkmal eingefunden hatten, um den nahenden Abend
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