Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
Vom Netzwerk:
auf ihre Art zu begrüßen. Erste Weinflaschen hatten die Runde gemacht, erste Pfeifchen waren entzündet worden. Und dann war Natacha aus der U-Bahn-Station aufgetaucht und hatte mit ihrem Märchen begonnen.
    Zumindest hielt Luc es für ein solches, doch nun, als er das ehrliche Entsetzen in den Visagen seiner Kollegen sah, spürte er plötzlich, wie die kalte Hand des Zweifels sich um seine Eingeweide schloss.
    »Es war die Linie D, Richtung Gare de Vaise«, sagte Natacha wimmernd, nachdem sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Irgendwer reichte ihr die Weinflasche, doch sie schüttelte nur den Kopf. »Wir hatten zur Altstadt fahren wollen, um… Und… Ich mein, er hat ja auch mit mir geredet. Die ganze Zeit hat er mit mir geredet, ja? Und dann auf einmal macht er einen Satz nach rechts… und springt vor…«
    Niemand von ihnen sagte ein Wort. Alle starrten Natacha an, hingen entsetzt an ihren Lippen. Alle außer Luc.
    »Die Bahn konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen, und Etienne wurde…« Sie brach abermals ab, setzte neu an. Ihre Stimme war hoch und schrill, Ton gewordene Verzweiflung. »Ich hab gesehen, wie er buchstäblich gepl…«
    Miro - der versifft aussehende Mittzwanziger mit dem buschigen Vollbart und den an Mondkrater erinnernden Narben im Gesicht, der neben Luc saß - stellte die Weinflasche hin und bekreuzigte sich; eine Geste, die Luc an ihm noch nie gesehen hatte. Wären ihm zwei Antennen aus dem Schädel gewachsen, es hätte den Jungen nicht stärker überrascht.
    Coraline und Christophe stützten Natacha, die vor lauter Tränen und Schluchzen kaum noch Luft bekam. Und der alte Max zog sich die Mütze vom braunen Lockenkopf. Er sah aus, als habe man ihm soeben den Weltuntergang prophezeit.
    Luc legte den Kopf in den Nacken und begann, schallend zu lachen.
    Er lachte und lachte, konnte gar nicht mehr aufhören. Diese Geschichte, die Absurdität der gesamten Situation - es sprudelte einfach aus ihm heraus. Etienne, pah! Etienne war ein Fels, ein unverrückbarer Stein. Nichts und niemand brachte den dazu, sich selbst zu verabschieden. Luc hatte gesehen, wie Dealer von sich aus mit dem Preis runter gegangen waren, nur weil Etienne sie »liebevoll gebeten« hatte. Er hatte erlebt, wie Gastwirte selbst Stunden nach der regulären Schließzeit des Lokals nicht wagten, ihre Gäste hinauszukomplimentieren - weil es sich dabei um Etienne und seine Clique gehandelt hatte. Verdammt, er hatte sogar gesehen, was Etienne mit dem WC und dem Billardtisch dieser schäbigen Spielhalle angestellt hatte.
    Wenn überhaupt einer das Leben verstand, dann ja wohl Etienne Fontaineux!
    Luc merkte, dass die anderen ihn anstarrten, als hätte er ihnen gerade grinsend ins Gesicht gespuckt.
    »Kommt schon, Leute«, sagte er und hob die Hände, »das glaubt ihr doch selbst nicht. Etienne und Selbstmord? So ein Quatsch!« Dann zeigte er auf die noch immer willenlos schluchzende Natacha. »Das ist ein Scherz, verdammt. Die da ist scharf auf Etienne; ich hab sie erst kürzlich dabei erwischt, wie sie an ihm rumgemacht hat. Bestimmt haben die beiden sich diesen Stuss ausgedacht, um uns mal gehörig zu erschrecken. Und ihr habt's auch noch geglaubt!«
    Noch immer schwiegen alle, regungslos. Einzig Natachas Weinen klang über den weiten Platz, vom Abendwind getragen. Dann öffnete Coraline den Mund, und in ihren Worten lag mehr Hass und Verachtung, als Luc der schmächtigen Person je zugetraut hätte. »Verschwinde, Kleiner«, sagte sie leise, und jede Silbe wurde von einem Nicken von Christophe, Miro und Max begleitet. »Hau ab, und lass dich hier nie wieder blicken! Wenn ich deine schmutzige Visage noch einmal sehe, dann reiße ich sie dir mit bloßen Fingern vom Kopf, das garantiere ich.«
    »Cora, was…«
    »Halt's Maul, Babybacke!«, fiel ihm Miro ins Wort. »Halt dein dreckiges, beschissenes Maul und verschwinde, bevor wir dich so grün und blau schlagen, dass dich nicht einmal mehr deine Mutter wiedererkennt.«
    Christophe nickte. »Wir haben dich lange genug ausgehalten. Jetzt sieh zu, dass du andere Idioten findest, bei denen du dir wichtig vorkommen kannst. Und cool.«
    Völlig überrumpelt blickte Luc von einem zum anderen, fassungslos über die unverhohlene Ablehnung, welche die Menschen, die er so lange schon als seine Freunde betrachtete, ihm mit einem Mal entgegenbrachten.
    Nein, nicht mit einem Mal , schoss es ihm durch den Kopf. Immer schon. Für die war ich nie mehr als der Pausenclown. Nur ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher