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0909 - Drachentod

0909 - Drachentod

Titel: 0909 - Drachentod
Autoren: Andreas Balzer
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Sie nahm die North South Line, wechselte bei der nächsten Station zur North East und fuhr bis Little India. Etwaige Verfolger würden in der hauptsächlich von nordindischen Tamilen bewohnten Gegend eher auffallen als in den stärker chinesisch geprägten Stadtvierteln. Erst als sich Chin-Li ganz sicher war, dass sich niemand an ihre Fersen geheftet hatten, hielt sie inne.
    Erschöpft lehnte sie sich in einer unbelebten Gasse an eine Hauswand und lauschte dem Rauschen ihres eigenen Blutes, während die Wirkung des Adrenalins langsam nachließ. Die Verletzungen, die ihr das Glas beim Sprung durch die zerbrochene Scheibe zugefügt hatte, waren kaum der Rede wert. Sie würden schnell verheilen.
    Doch im Moment hatte Chin-Li ganz andere Sorgen. Hastig zog sie den Briefumschlag aus der Hosentasche, in die sie ihn bei ihrer Flucht gestopft hatte. Ob die Nachricht wirklich für sie bestimmt war? Die Kriegerin hatte nicht den geringsten Zweifel daran. Und sie wusste, dass es nichts Gutes sein konnte, das sie erwartete. Ein Mensch war bestialisch niedergemetzelt worden, nur damit sie diese Botschaft bekam, vielleicht sogar zwei.
    Das Papier schien zwischen ihren Fingerkuppen zu brennen. Chin-Li zögerte einen Moment, dann riss sie den Brief auf.
    Der Schock traf sie wie ein Vorschlaghammer. Der Umschlag enthielt nur ein schlichtes Farbfoto, und der Inhalt hätte kaum unspektakulärer sein können. Das Bild zeigte ein leeres Zimmer. Einen schlicht eingerichteten Wohnraum, wie er in unzähligen chinesischen Häusern zu finden war. Doch Chin-Li kannte diesen Raum nur zu gut.
    Es war das Wohnzimmer ihrer Eltern.
    ***
    Professor Zamorra konnte »Lee« nicht ausstehen. Der junge Chinese mit der grellroten Punkfrisur lümmelte sich auf dem Sessel herum, als sei das Anwesen sein persönliches Eigentum. Geschickt ließ er eine Zigarette durch seine Finger gleiten. Er machte keinen Versuch, den Glimmstängel anzuzünden. Er wusste, dass Zamorra oder Nicole ihm das sofort untersagen würden. Das Spiel war reine Provokation.
    Und es wirkte. Zamorra hätte den Schnösel am liebsten gepackt und höchstpersönlich zur Haustür hinausbefördert. Und ein Seitenblick auf Nicole verriet ihm, dass es seiner Lebensgefährtin, Sekretärin und Partnerin im Kampf gegen die Mächte der Finsternis, nicht anders ging, aber er hielt sich zurück. Denn Lee war ein Diener der Neun Drachen, und Zamorra wollte zuerst wissen, was er ihnen zu sagen hatte.
    Der Dämonenjäger hatte nicht allzu viel übrig für den Geheimbund, der das ganze organisierte Verbrechen in der ehemaligen Kronkolonie kontrollierte. Ursprünglich gegründet, um Hongkong vor einem namenlosen Dämon, dem Fremden, zu schützen, war der Orden in den tausend Jahren seines Bestehens zu einer skrupellosen Verbrecherorganisation mutiert, die nur noch ihre eigenen Interessen verfolgte.
    Doch Zamorra konnte nicht verleugnen, dass es ihnen in den vergangenen Jahren mehrfach nur mit Hilfe der Neun Drachen gelungen war, ihre Gegner zu besiegen. Also riss sich der Dämonenjäger zusammen und unterdrückte seine Abneigung gegen den Drachendiener, der vor zehn Minuten an ihre Tür geklopft hatte.
    Weiß der Henker, woher er wusste, dass wir da sind , dachte Zamorra. Schließlich war das bei ihrem aufreibenden Job, der sie oft in die entlegensten Winkel der Welt führte, eher eine Seltenheit. Vielleicht hatte der junge Chinese einfach nur Glück gehabt. Oder die Neun Drachen überwachten sie. Zamorra wollte sich gar nicht ausmalen, was das für Konsequenzen hatte.
    »Also, Lee«, sagte er und betonte den Namen dabei ganz besonders. Er war sich sicher, dass der Drachendiener ihnen nur einen Tarnnamen genannt hatte. »Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs? Ich nehme nicht an, dass Sie sich nur wegen der guten Landküche aus Paris herbemüht haben.«
    Der Asiate kicherte. »Nein, ganz gewiss nicht, Professor. Sie sind ein guter Beobachter.« Es klang wie eine fiese Spitze, und Zamorra merkte wieder, wie seine Halsschlagader anschwoll. Mach nur weiter so Freundchen , dachte er, als er registrierte, wie ihm Nicole beruhigend eine Hand auf den Oberschenkel legte. Fast hätte er gegrinst. Schließlich war es eigentlich seine temperamentvolle Partnerin, der es in solchen Situationen schwerfiel, nicht aus der Haut zu fahren.
    »Unsere gemeinsamen Freunde in Hongkong…«
    »Wir haben keine gemeinsamen Freunde in Hongkong«, stellte Nicole klar. »Nicht, seit Chin-Li den Neun Drachen den Rücken gekehrt
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