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0909 - Drachentod

0909 - Drachentod

Titel: 0909 - Drachentod
Autoren: Andreas Balzer
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auf dem Pflaster lag.
    Abrupt wandte sie sich vom Fenster ab. Sie musste verschwinden, bevor die Polizei hier auftauchte und sie als Hauptverdächtige festnahm. Die chinesische Kriegerin wollte sich gerade einen Weg durch die aufgebrachte Menge bahnen, als ihr etwas ins Auge stach. Ein winziges Detail nur, das jedoch so gar nicht ins Bild passte.
    Es war ein Briefumschlag, dessen blütenreines Weiß wie ein höhnischer Kommentar zu dem stinkenden Gemisch aus Blut und Gedärmen wirkte, in das er platziert worden war. Jemand hatte den Umschlag direkt neben den aufgerissenen Bauch von Simon Wang aufs Bett gelegt. Von der Tür aus hatte Chin-Li ihn nicht sehen können, doch instinktiv wusste sie, für wen die Nachricht bestimmt war.
    Jemand wusste, dass ich komme. Das ist alles für mich inszeniert.
    Etwas krampfte sich in ihrem Magen zusammen, ein Klumpen aus kalter Wut und Angst. Schnell unterdrückte sie die Emotionen. Du musst einen kühlen Kopf bewahren. Dreh jetzt bloß nicht durch.
    Ohne lange nachzudenken, griff Chin-Li nach dem Umschlag und bahnte sich durch die Menge ihren Weg ins Freie. Sie hatte den Flur fast erreicht, als die Polizei eintraf. Es waren zwei Streifenpolizisten. Offenbar nur die Vorhut, bis die Experten von der Mordkommission eintrafen. Der jüngere, ein nervöser Typ, der vermutlich gerade erst die Grundausbildung hinter sich hatte, starrte an Chin-Li vorbei auf das Blutbad. Dann zuckte sein Blick zu der chinesischen Kriegerin, die sich deutlich von den verängstigten Menschen um sich herum abhob. Und zu der Beretta, die sie immer noch in der Rechten hielt.
    Panisch riss der Polizist seine Waffe aus dem Holster. Sein Kollege tat es ihm gleich.
    »Ich habe nichts damit zu tun«, sagte Chin-Li ruhig.
    »Klappe! Waffe fallen lassen und Hände hoch. Sofort!«
    Beunruhigt registrierte Chin-Li das nervöse Flackern in den Augen des jungen Beamten. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, die Cops auszuschalten, aber sie wollte keine Unschuldigen verletzen.
    Also doch das Fenster.
    Die Kriegerin wirbelte herum, riss den rechten Fuß hoch und entwaffnete die beiden Polizisten mit einem einzigen Kick. Dann schob sie sich die Beretta in den Hosenbund und nahm Anlauf. Die Umstehenden schrien entsetzt auf, als die Kriegerin direkt auf das Fenster zuschoss und sich mit einem Hechtsprung durch die zerborstene Scheibe katapultierte.
    Chin-Li spürte kaum, wie sich messerscharfe Glassplitter in ihren Körper bohrten. Zu sehr konzentrierte sie sich auf den freien Fall. Langsam wurde es für sie zu einer ungesunden Gewohnheit, absurd hohe Gebäude oder Berge herabzuspringen.
    Doch diesmal dauerte es nicht lange.
    Die Kriegerin sah das Gitter eines unter ihr liegenden Balkons und griff zu. Der Ruck schien ihr die Gelenke zu zerreißen, dann hatte sie sicheren Halt. Schnell zog sie sich hoch, während sich drei Stockwerke über ihr die Polizisten aus dem Fenster lehnten und in die Tiefe starrten.
    »Wo ist sie hin?«
    »Ist sie wirklich gesprungen?«
    »Da unten auf dem Balkon!«
    Eine Kugel jaulte an ihr vorbei, verfehlte sie aber um fast einen Meter. Chin-Li griff sich einen Balkonstuhl und schleuderte ihn gegen die geschlossene Glastür. Sie hatte keine Zeit für Raffinesse. Das dahinterliegende Hotelzimmer war leer. Gut. Wenigstens etwas.
    Chin-Li hastete durch das Zimmer und erreichte das Treppenhaus, bevor ihr einer der Polizisten folgen konnte.
    Die Lobby war zu unsicher, wahrscheinlich war die Verstärkung schon eingetroffen.
    Die Kriegerin rannte weiter in den Keller und kam an eine Tür, auf der deutlich der Hinweis »Nur für Personal« stand. Sie war unverschlossen. Heiße, dampfende Luft schlug ihr entgegen. Chinesinnen in weißen Kitteln starrten sie an und begannen, aufgeregt zu schnattern und zu gestikulieren. Offenbar war sie in die hoteleigene Wäscherei geraten.
    Chin-Li kümmerte sich nicht um die Frauen, die ihr wütend hinterherschrien. Sie kam an eine weitere Tür und dann war sie draußen. Eine schmale Kellertreppe führte zu einem weiteren Hinterhof, der direkt mit der North Bridge Road verbunden war.
    Niemand achtete auf die Kriegerin, als sie auf den stark belebten Bürgersteig trat. Polizeiwagen rasten mit Blaulicht an ihr vorbei und hielten mit quietschenden Reifen vor dem Eingang des New Asia Hotels. Uniformierte sprangen aus den Fahrzeugen und bellten sich gegenseitig Befehle zu.
    Chin-Li wandte sich ab und ging zügig, aber ohne auffällige Hast zur nächsten U-Bahn-Station, City Hall.
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