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090 - Die Totenwache

090 - Die Totenwache

Titel: 090 - Die Totenwache
Autoren: Dämonenkiller
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In der Mitte erkannte man einen steinernen Sarkophag, dessen Ränder mit bizarren Reliefs verziert waren. Düster waberten die Nebelschwaden um das Gebilde. Auf dem Sarkophag ruhte ein halbnacktes Mädchen. Sie war außergewöhnlich schön. Lange, honigblonde Haare ringelten sich um ihre ebenmäßig geformten Schultern. Obwohl sie schon eine Ewigkeit dort aufgebahrt zu sein schien, wies ihr Körper keine Anzeichen von Verwesung auf. Ganz anders war das bei dem Wächter, der rechts neben dem Sarkophag kauerte und sich schwer gegen den steinernen Rand stützte. Er war völlig skelettiert. Seine Knochenbeine steckten in Stulpenstiefeln, und sein Schädel wurde von einem goldenen Flügelhelm gekrönt. Die Rippen und Schulterknochen verbarg ein roter, mit Pelz besetzter Umhang.
    „Der Tod", flüsterte Alicia ergriffen. „Ich wußte, daß ich eines Tages die Vision des Todes haben würde. Jede Injektion bringt mich dem Tod näher. Das Mädchen - sie ist mir ähnlich! Ich sehe meinen eigenen Tod…"
    Donelly war unfähig, ein Wort zu sagen. Er wollte sich dem Zauber der schlafenden Schönen entziehen, doch es gelang ihm nicht. Hatte er sich getäuscht, oder bewegte sich der Skelettwächter? Die Spitze seines breiten Schwertes hob sich langsam. Wenig später deutete sie genau auf ihn und Alicia.
    Das Mädchen barg aufschluchzend ihr Gesicht in den Händen. Donelly wurde für einen Augenblick durch das Schrillen der Polizeisirenen abgelenkt. Als er sich dem überirdisch wirkenden Bild erneut zuwenden wollte, war es verschwunden. Der Nebel über der Themse verdichtete sich wieder.
    „Wir müssen verschwinden, Alicia - die Polizei kommt!"

    Norman Moore war sechsundzwanzig Jahre alt. Sein braunes Haar war gelichtet und hing ihm wirr in die Stirn. Er trug einen grünen Parka und ausgefranste Jeans. Sein Gang war schleppend. Wie in Trance griff er nach der EVENING POST, die im Selbstbedienungskasten lag. Er schob sich die Zeitung unter den Arm und ging weiter. Die vorbeifahrenden Wagen ließen die Pfützen aufspritzen. Die Pneus quietschten, als die Ampel auf Rotlicht schaltete.
    Langsam überquerte er die Oxford Street. Er schien weder die Lichtreklamen noch die vorbeihastenden Menschen wahrzunehmen. Norman Moore hatte die Nacht im Club verbracht. So nannten er und seine Freunde das PAM draußen in Chelsea. Er war nach Dienstschluß mit einigen Typen dorthin gegangen. Sie hatten ihren Joint geraucht und auf die Tanzfläche gestarrt. Dabei war die Zeit vergangen.
    Es war ein Abend wie viele andere gewesen. Er hatte zunächst auf Alicia gewartet, doch sie war nicht gekommen. Niemand wußte, wo sie steckte. Da er ihre Adresse nicht kannte, war er einfach im Club geblieben.
    Nicht, daß sie Liebe oder tiefe Zuneigung verband. Nein, sie waren sich auf irgendeine, schwer zu beschreibende Art und Weise sympathisch. Er freute sich, wenn sie ihm abends eine Rose zusteckte. Sie freute sich, wenn er mit ihr über das Museum plauderte.
    Norman wußte, daß Alicia süchtig war. Er hatte nie den Versuch gemacht, ihr das auszureden. Ihm war egal, was andere trieben - ob sie sich selbst kaputtmachten oder durch fleißiges Trimmen aktiv hielten. Er war phlegmatisch, was ihm bei den anderen den Spitznamen „Schrat" eingebracht hatte. Norman hatte keinerlei beruflichen Ehrgeiz. Er begnügte sich mit seinen Einkünften als Museumsdiener. Das war leicht verdientes Geld und verpflichtete ihn lediglich, täglich anwesend zu sein. Ob er zwischendurch ein Nickerchen machte oder für eine Stunde im Archiv verschwand, fiel kaum auf.
    Obwohl Norman Moore im PAM stets einen Joint rauchte, konnte man ihn nicht als rauschgiftsüchtig bezeichnen. Er hatte nie den Drang verspürt, sich einen Schuß verpassen zu lassen. Man hatte ihm oft genug eine kostenlose Spritze angeboten. Doch er hatte immer abgelehnt. Vielleicht war seine Gleichgültigkeit allen Dingen gegenüber der Schlüssel zu seinem Wesen. Er wehrte sich gegen alle Extreme, so auch gegen den Konsum harter Drogen.
    Das Museum war sein einziger Lebensinhalt. Er war der Sohn eines Taxichauffeurs. Seine Mutter starb früh. Wenn er seinen Vater sehen wollte, brauchte er nach Dienstschluß nur in den Hyde Park zu gehen. Dort stand sein Vater mit einer Flasche Guinness und stieß in regelmäßigen Abständen ziemlich üble Schimpfworte gegen die öffentlichen Redner aus.
    Norman Moore bog von der Oxford Street in die Tottenham Court Road ein. Wenig später lag das Britische Museum vor ihm. Der Pförtner
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