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083 - Das Ende der Unschuld

083 - Das Ende der Unschuld

Titel: 083 - Das Ende der Unschuld
Autoren: Jo Zybell
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am Ende des Kamins verblasste, und das zweite Mal, nachdem er aufs Neue aufleuchtete. Vor Sonnenuntergang und nach Sonnenaufgang also. Dann schob es sich durch den Kamin herab, schnüffelte, sprang unter sie und griff sich einen von ihnen.
    Man sah es nicht, das Tier. Stockdunkel war es in der feuchten Grotte. Man hörte es aber schnaufen, schnüffeln und schmatzen, man hörte die Schreie seines Opfers, man hörte Fleisch zerreißen und Knochen splittern.
    Alles in vollkommener Dunkelheit.
    Wenn es satt war, kroch es wieder den schmalen Felsgang hinauf und verschwand irgendwo dort oben. Bis der Hunger es das nächste Mal zu ihnen herunter trieb.
    »Nein«, keuchte Birgel’wost. »Nein, nein, nein…« Die Zehen in eine Gesteinsspalte bohren, die Finger um einen Felsvorsprung schließen, sich mit Rücken und Knien gegen die Schachtwände stemmen, und weiter hinauf. Birgel’wost war keiner, der aufgab, wahrhaftig nicht. Wenn es bloß noch nicht hell würde dort oben…
    »Es hat keinen Sinn«, wisperte eine Stimme unter ihm aus der Dunkelheit. Und eine andere sagte: »Die Macht im See will es so. Es ist gut, was die Macht im See will, für irgendwas ist es immer gut…«
    »Zu leben, das ist gut«, fauchte Birgel’wost. Er dachte an seinen Hund. Er dachte an seine Frauen, an sein Bergwerk, seine Kinder, seine Sklaven. Weiter, Handbreite um Handbreite nach oben, immer weiter. Ja, zu leben, das war gut, und sonst nichts. Bald hatte er die Hälfte des Schachtes bewältigt.
    Auf einer Marktreise war es passiert, vor etwas mehr als einem halben Mond. Mit drei Schiffen und achtzehn anderen Männern aus dem Volk der Narod’kratow war Birgel’wost von seinem Bergwerksdorf aus in See gestochen. Hinüber nach Ma’an’tschech ans Westufer des Sees. Ma’an’tschech war die größte Siedlung der Rriba’low, der friedlichen Fischfänger.
    Nichts sprach also für Gefahr.
    In Ma’an’tschech wurde Markt abgehalten, immer am dritten Vollmond nach dem Schöpfungsfest. Die Rriba’low boten geräucherten Fisch an, die Woiin’metcha - die Schwertkrieger -Klingen, und die Mastr’ducha - die Geistmeister - Stoffe und gegerbtes Leder. Und alle boten sie die Verstoßenen ihrer Stämme als Sklaven feil.
    In den Laderäumen der Schiffe von Birgel’wost lagerten Erzbarren, der Ertrag von zwölf Monden.
    Er machte gute Geschäfte, tauschte sein Erz gegen neue Sklaven, gegen Fisch, Getreide, Leder, Stoffe und so weiter.
    Was sein Dorf eben brauchte, um zu überleben und die Arbeit in den Bergwerken voran zu treiben.
    An die fünfzig Rriba’low begleiteten sie nach dem Markt zur Bucht hinunter, wo Birgel’wosts Schiffe ankerten. Sie verstauten die Waren in den Laderäumen, wollten eben vom Ufer ablegen - und dann tauchte er auf, jener Schwertkrieger.
    Er nannte sich Tenna’wan.
    »Die Macht im See ruft«, sagte er. »Alle auf die Schiffe, ich bring euch ans Ziel.« Keiner widersprach, auch Birgel’wost nicht. Spürte er sie doch, die Macht. Auf einmal war sie da.
    Folgt ihm, raunte ihre Stimme in seinem Kopf, folgt Tenna’wan. In allen Köpfen raunte sie.
    Auch jetzt war sie da, die Macht, auch jetzt raunte sie in seinem Kopf. Bis hierher und nicht weiter, sagte sie.
    Umkehren, zurück.
    Erschöpft ließ Birgel’wost den Kopf sinken. »Nein, nein, nein…« Seine nasse Stirn rieb sich am Fels. »Ich will weiter, weiter, weiter…« Ein trotziger Narod’kratow, dieser Birgel’wost. Klein, verwachsen, knotig, wie geflochtenes altes Leder, und genauso zäh. »Nein…« Er weinte, während er gegen die Macht in seinem Kopf kämpfte, während er versuchte weiter zu klettern.
    Vor einem halben Mond gehorchte er der Stimme, alle gehorchten ihr. Sie bestiegen die Schiffe, auch die friedlichen Fischfänger aus Ma’an’tschech. Fast hundert Lebewesen drängten sich auf drei Frachtschiffen zusammen: Fischfänger, Sklaven, und Birgel’wost und seine Narod’kratow.
    Wie lange sie unterwegs waren, wusste er nicht; lange.
    Tenna’wan führte sie nicht zurück zum Bergwerksdorf, o nein, er lotste sie an der Küste hinauf nach Norden. Dunkel war es, als sie anlegten, dunkel, als sie Proviant zusammen packten und schweigend die Felsküste hinaufkletterten. Nur ein Stück, dann ging es in eine Höhle. Dampfig und feucht war es darin, es roch nach Rost und ein grünliches Leuchten füllte sie aus.
    Obwohl bis auf das Leuchten vollkommene Dunkelheit herrschte, bewegte Tenna’wan sich, als sähe er jeden Stein, jeden Felsvorsprung, jeden
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