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045 - Das verschwundene Volk

045 - Das verschwundene Volk

Titel: 045 - Das verschwundene Volk
Autoren: Claudia Kern
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gerbten Leder. Aruula gehörte zu den Korbmacherinnen, die aus Bastfasern breite Körbe herstellten, die überall im Dorf Verwendung fanden. Es war eine einfache, aber monotone Arbeit, bei der man sich schnell in Tagträumen verlor.
    Unter den wachsamen Blicken der alten Frauen ging Aruula zu ihrem Platz und nahm einen halbfertigen Korb in die Hand, den sie im schwindenden Licht des Vorabends nicht mehr fertiggestellt hatte. Ihre Finger nahmen die geübten Bewegungen auf, ohne dass sie sich darauf konzentrieren musste.
    Stattdessen sah sie hinaus auf die Ebene, auf die grünen, von künstlichen Wasseradern durchzogenen Maisfelder, zwischen denen sich Frauen auf der Suche nach Schädlingen bewegten, und auf die kleinen Gruppen von Jägern, die im Laufschritt hinter den Felsen verschwanden. Mit jeder Bewegung nahm der Lärm der spielenden Kinder und die anderen Geräusche des Lagers ab.
    Aruula entspannte sich, fühlte Geborgenheit hinter dieser Mauer der Stille. Die grünen Felder verschwammen vor ihren Augen, wurden von etwas überlagert, das wie eine Felswand aussah. Daran hatte sich Aruula bereits gewöhnt. Sie sah die Schlucht während der Arbeit, im Halbschlaf und am Rand ihres Gesichtsfelds wie etwas, das sich nicht greifen ließ und verschwand, wenn man versuchte, darauf zu achten.
    Anfangs hatte Aruula über diese Erscheinung gerätselt, aber mittlerweile nahm sie den Anblick der Schlucht ebenso hin wie die vertraut fremde Stimme eines Mannes, die ihren Namen rief…
    ***
    »Ich denke, du weißt, weshalb wir den Rat einberufen haben«, sagte Delketh, während er sich mit einem Fächer aus geflochtenen Maisblättern Luft zuwedelte. Sein hageres altes Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, aber die Augen darin wirkten jung und aufmerksam.
    Makeje blinzelte durch den Rauch, der wie Nebel in dem Kivas stand und in seinen Augen brannte. Seit Monduntergang saß er mit dem Ältestenrat in der unterirdischen Versamm- lungsstätte und meditierte über den Flammen. Seine Kehle war ausgetrocknet, seine Stimme heiser und sein Magen knurrte so laut, dass er fürchtete, der Häuptling könne es hören.
    »Ihr wollt mit mir über die Fremde sprechen«, sagte er.
    Delketh nickte. »Das ist richtig. Wir wollen wissen, wie lange das noch so weitergehen soll.«
    »So lange, wie es notwendig ist.«
    Die Antwort klang patziger als Makeje beabsichtigt hatte. Der Häuptling runzelte die Stirn, doch die Erwiderung auf seine Worte kam aus einer anderen Richtung.
    »Vergiss nicht, mit wem du sprichst, Junge,« sagte Jekulah, der älteste Mann des Stammes. Er hatte über neunzig Sommer erlebt, war kahlköpfig und seit einem schweren Unfall lange vor Makejes Geburt vom Hals abwärts gelähmt. Während der Versammlungen saß er stets am gleichen Platz, festgebunden an einen Pfahl. Seine Arme und Beine lagen reglos wie verdorrte Äste auf dem felsigen Boden. Makejes Vater hatte einst erzählt, Jekulah sei vom Alten Coyoten zu einem Wettrennen aufgefordert worden. Als er gewann, verhöhnte er den Gott, der ihn für seine Arroganz bestrafte.
    Er wusste nicht, ob die Geschichte stimmte, aber er kannte auch niemanden, der es je gewagt hatte, Jekulah danach zu fragen.
    Makeje neigte seinen Kopf vor dem alten Mann. »Du hast Recht, ich war unhöflich. Verzeiht mir.«
    Die acht Männer des Ältestenrats murmelten ihre Zustimmung, bevor Delketh erneut das Wort ergriff.
    »Im, Stamm herrscht große Unruhe«, sagte er.
    »Die Menschen fragen mich, weshalb ich eine Yiet'zu in ihrer Mitte dulde. Ich würde es ihnen gerne erklären, aber ich glaube, dass nur du die Antwort kennst.« Er lehnte sich vor. Der Lichtschein des Feuers tanzte hell über sein Gesicht. »Nenne uns die Antwort.«
    Wenn ich sie nur selbst wusste, dachte Makeje. Laut sagte er: »Vor einigen Tagen tauchten zwei Yiet'zu auf der anderen Seite des Sipapu auf. Ich umnebelte ihren Geist, so wie es die Tradition vorsieht und es mich mein Vater gelehrt hat.«
    Die alten Männer,nickten beifällig.
    »Doch dann«, fuhr Makeje fort, »geschah etwas Ungewöhnliches. Die Fremde schickte ihren Geist durch das Sipapu. Sie konnte uns sehen, sogar mit mir sprechen. Ich…«
    »Das ist unmöglich«, unterbrach ihn Jekulah.
    »Kein Yiet'zu besitzt eine solche Macht.«
    »Ich weiß, aber was ist, wenn sie kein Yiet'zu ist? Sie könnte durch einen Zufall oder einen Trick des Alten Coyoten in diesen Körper geraten sein. Wenn sie ein Mensch ist, müssen wir ihr helfen, sonst könnten sich ihre
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