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0407 - Am Tisch des Henkers

0407 - Am Tisch des Henkers

Titel: 0407 - Am Tisch des Henkers
Autoren: Jason Dark
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Zeit der völligen Leere, der anderen Welt, aber eine Zeit der Reife.
    Denn Rache muss reifen.
    Da gab es eine Kraft, die sie festhielt, die sich ihrer bemächtigt hatte und sie führte. Die mit ihr sprach, obwohl sie in einer Art Koma lag, und die ihr immer wieder Mut machte, doch nicht aufzugeben, sondern dem Zeitpunkt entgegenzusehen, der es ihr erlaubte, das fortzusetzen, was mit ihrem Tod begonnen hatte.
    Sie sollten büßen.
    Alle sollten büßen – und sterben.
    Das wusste sie, denn sie hatte einen mächtigen Verbündeten, der einmal ihr Feind gewesen war und nun gezwungen wurde, sich auf ihre Seite zu stellen. Zu ihm wollte sie hin. Seinetwegen hatte sie all die Jahre gewartet, und der Weg war genau vorgezeichnet.
    Seinetwegen hatte sie den Tod überwunden und mit den finsteren Göttern einen Pakt geschlossen.
    Sie war tot, aber sie lebte trotzdem.
    Sie konnte sich bewegen. Wenn sie ging, wirkte sie wie eine Marionette. Es war ein Leichtes gewesen, den Sarg zu verlassen. Das dünne Totenhemd schlotterte um ihren Körper. Mit den nackten Füßen trat sie auf den kalten Stein, aber sie spürte weder Hitze noch Kälte, denn sie war ein Geschöpf, das seine Kraft aus dem Jenseits holte und in das Jenseits zurückkehren würde, wenn die Rache vollendet war.
    Mari hatte man sie genannt. Sie war ein gutes Mädchen gewesen, treu, pflichtbewusst. Ihren Eltern hatte sie gedient, und ihren Brüdern und Schwestern. Bis die Weißen gekommen waren und ihre Schönheit erkannten. Es war ein grausames Spiel gewesen, das sie mit ihr getrieben hatten. Die schlimmsten Demütigungen, die man sich vorstellen konnte, waren ihr widerfahren.
    Und dann der Tod.
    Nein, er war nicht endgültig gewesen, auch wenn es so lange Zeit gedauert hatte, denn jetzt war sie erwacht und befand sich wieder unter Menschen. Ja, sie wollte die Menschen, eine Gier überkam sie, wenn sie die Zweibeiner sah, aber sie wollte nicht unbedingt von ihnen gesehen werden, deshalb hielt sie sich im Schatten der Lagerhalle und bewegte sich dabei dicht an der Wand entlang.
    Niemand achtete auf sie. Auch dann nicht, als sie die kleine Rolltür erreichte, durch die sie gehen musste.
    Mari lebte nicht mehr, aber in ihrem Hirn hatte sich etwas festgebrannt. Der Vergleich mit einem Computer stimmte zwar nicht unbedingt, aber die unbekannte Kraft hatte ihren Fluchtweg genau vorgezeichnet.
    Die lebende Leiche mit den langen, dunklen Haaren und dem bleichen Gesicht betrat den kleinen Anbau, in dem sich die Büroräume befanden. Hier musste sie rein, das war ihr vorgegeben worden.
    Begleitet wurde sie von einem ungewöhnlichen Duft. Als wäre der Modergeruch durch süßes Parfüm aufgefrischt worden.
    Vor dem Haus sprang ein Automotor an, dann fuhr ein Wagen weg, und die lebende Frauenleiche wandte sich sofort nach rechts, wo sich die Treppe befand.
    Hier lag ihr erstes Ziel.
    Allerdings nicht auf den Stufen oder in der nächsten Etage, sondern unterhalb der Treppe, wo der Weg in den Keller führte. Zielsicher fand sie die Tür, zog sie vorsichtig auf und zeigte sich nicht deshalb irritiert, weil das Licht brannte, sondern weil sie aus der Tiefe des Kellers Geräusche vernommen hatte, die darauf schließen ließen, dass sich dort jemand befand.
    Und sie roch ihn.
    Menschenfleisch…
    Ja, das war ein Mensch, der nichts ahnend dort arbeitete und die Melodie des Liedes pfiff, das gerade im Radio lief.
    Die Untote schritt die Treppe hinab.
    Ein normaler Mensch hätte schon gewusst, wo der Weg hinführte.
    Typischer Aktenstaub schwebte kaum sichtbar in der Luft. Manchmal hing er wie ein Schleier nahe der Lampenstrahlen, aber das alles interessierte die Untote nicht. Sie musste diesen Kellerraum, der als Archiv diente, ganz durchqueren, um das Ziel zu erreichen.
    Im Keller arbeitete Teddy, der Lehrling mit dem »Null Bock«. Ihm war die Aufgabe zugefallen, neue Aktenberge einzuräumen. Und das tat er lieber, als dauernd in Madisons mürrisches Gesicht zu schauen. Hier unten stand er nicht unter Aufsicht, er konnte auch Musik hören, was für ihn sehr wichtig war.
    Man sprach zwar davon, das Archiv auf EDV umzurüsten und die Aktenberge auf Mikrofilme zu packen, das jedoch würde noch lange dauern. Dann war Teds Lehrzeit längst vorbei.
    Wo war noch Platz?
    Eine Regalreihe an der Wand konnte er noch voll stopfen. Sie befand sich dicht unter der Decke.
    Die Beleuchtung war mies. Teddy hatte trotzdem die Hälfte bereits geschafft und war überzeugt, dass er wieder einmal zu schnell
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