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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein
Autoren: Elizabeth George
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sich das Geschirr für alle Tage, und darunter stand unter der Last von Geschirrtüchern und Spüllappen schwankend ein dreieckiges Trockengestell. Auf den Fensterbrettern reihten sich tropische Pflanzen in Keramiktöpfen mit großen palmwedelähnlichen Blättern - Pflanzen, die im eisigen Klima des schottischen Winters eigentlich hätten sterben müssen, in der Wärme der Küche jedoch prächtig gediehen.
    Im Augenblick allerdings war der Raum noch eiskalt. Als Gowan hereinkam, war es fast sieben Uhr, aber der große Heizofen hatte die eisige Morgenluft noch nicht erwärmt. Ein großer Kessel dampfte auf einer der Herdplatten. Durch die Sprossenfenster sah Gowan die Rasenflächen, die sanft gewellt zum Loch Achiemore abfielen, nach den Schneefällen der vergangenen Nacht unter einer weißen Decke liegen. Normalerweise hätte ihn der Anblick vielleicht erfreut. In diesem Augenblick jedoch hinderte ihn selbstgerechte Entrüstung daran, irgend etwas anderes zu sehen als das hübsche Mädchen, das am Arbeitstisch in der Mitte der Küche stand und Deckchen auf die Tabletts breitete.
    »Erklär mir das mal, Mary Agnes Campbell.« Gowans Gesicht wurde fast so rot wie sein Haar, und seine Sommersprossen verdunkelten sich merklich. Er hielt den zerknitterten Briefbogen hoch, den schwieligen Daumen genau auf dem Wappen von Westerbrae.
    Mary Agnes' unschuldsvolle blaue Augen streiften das Papier nur mit einem flüchtigen Blick. Nicht im geringsten verlegen ging sie in die Geschirrkammer und nahm Teekannen, Tassen und Untertassen von den Borden. Sie verhielt sich ganz so, als hätte eine ganz andere mit ungeübter Hand geschrieben, was da auf dem Briefbogen stand: »Mrs. Jeremy Irons, Mary Agnes Irons, Mary Irons, Mary und Jeremy Irons, Mary und Jeremy Irons mit Familie.«
    »Was denn?« fragte sie und warf das lange rabenschwarze Haar in den Nacken. Ihr weißes Häubchen, das keck auf ihren dunklen Locken saß, rutschte dabei schräg über das Auge. Sie sah aus wie eine reizende kleine Piratin.
    Eben das war das Problem. Nie war Gowans Herz für ein weibliches Wesen so heiß entbrannt wie für Mary Agnes Campbell. Er war ein Bauernjunge, mit fünf Geschwistern auf der Hillview Farm aufgewachsen, die sein Vater von Westerbrae gepachtet hatte, und nichts in seinem jungen Leben, in dem bisher die Schafherden seines Vaters und seine Bootsfahrten auf dem Loch das Wichtigste gewesen waren, hatte ihn auf das vorbereitet, was jedesmal mit ihm geschah, wenn er nur in Mary Agnes' Nähe kam. Nur der Traum, daß sie eines Tages ihm gehören würde, hatte verhindert, daß er ihretwillen völlig den Verstand verlor.
    Immer hatte er an die zukünftige Erfüllung dieses Traums geglaubt, trotz der Existenz von Jeremy Irons, dessen schönes Gesicht mit den seelenvollen Augen, aus Filmzeitschriften ausgeschnitten, die Wände von Mary Agnes' Zimmer im unteren Nordwestkorridor des großen Hauses zierte. Mädchenschwärmerei für das unerreichbare Idol war schließlich etwas ganz Normales - oder nicht? Das jedenfalls erklärte Mrs. Gerrard Gowan, wenn er ihr sein Herz ausschüttete und sie ihm zusah, wie er sich bemühte, den Wein in die feinen Gläser zu gießen, ohne die Hälfte auf das Tischtuch zu verschütten.
    Das war sicher richtig, solange der Unerreichbare unerreichbar blieb. Jetzt aber, wo das Haus voller Londoner Schauspieler war, mit denen man täglich in Berührung kommen würde, sah Mary Agnes ihre große Chance, das war Gowan klar. Ganz sicher kannte einer von diesen Leuten Jeremy Irons persönlich, würde sie mit ihm bekannt machen, und alles andere würde sich von selbst ergeben. Daß sie so dachte, bewies das Papier, das Gowan in der Hand hielt; es zeigte deutlich, was Mary Agnes von der Zukunft erwartete.
    »Was denn?« wiederholte er empört. »Du hast das hier in der Bibliothek liegengelassen, darum geht's.«
    Mary Agnes riß ihm den Briefbogen aus der Hand und stopfte ihn in ihre Schürzentasche. »Nett, daß du's mir nachgetragen hast«, sagte sie.
    Ihre Unerschütterlichkeit war zum Verrücktwerden.
    »Und eine Erklärung findest du wohl überflüssig?«
    »Übung, Gowan.«
    »Übung?« Er explodierte fast. »Wofür soll das denn Übung sein? Was hast du denn davon, wenn du Jeremy Irons‹ schreiben kannst? Noch dazu, wo der verheiratet ist.«
    Mary Agnes wurde blaß. »Verheiratet?« Sie stellte heftig eine Untertasse auf die andere. Das Porzellan klirrte.
    Gowan bedauerte seine impulsiven Worte sofort. Er hatte keine
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