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02 - Keiner werfe den ersten Stein

02 - Keiner werfe den ersten Stein

Titel: 02 - Keiner werfe den ersten Stein
Autoren: Elizabeth George
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genau nehmen würde, wenn ein paar Tropfen Tee auf die Leinenserviette fielen.
    Auf ihr Klopfen blieb es still. Die Tür war abgeschlossen. Stirnrunzelnd stemmte Mary Agnes das Tablett gegen die linke Hüfte und hantierte mit dem Schlüsselbund, bis sie den Hauptschlüssel für die Gästezimmer gefunden hatte. Sie sperrte die Tür auf, öffnete sie und trat ein, während sie im stillen noch einmal wiederholte, was sie zu sagen hatte.
    Das Zimmer war sehr kalt, sehr dunkel und völlig ruhig, obwohl man wenigstens das leise Zischen und Knacken des Heizkörpers zu hören erwartet hätte. Aber vielleicht hatte sich die Bewohnerin ins Bett verkrochen, ohne die Heizung überhaupt einzuschalten. Oder vielleicht, dachte Mary Agnes mit einem Lächeln, war sie nicht allein in ihrem Bett, sondern kuschelte sich unter der Daunendecke an einen der Herren. Und vielleicht kuschelte sie ja auch nicht nur. Mary Agnes unterdrückte ein Kichern.
    Sie ging zum Tisch unter dem Fenster, stellte das Tablett nieder und zog die Vorhänge auf, wie Mrs. Gerrard befohlen hatte. Es war erst kurz nach Tagesanbruch, die Sonne nur ein heller Schimmer über den dunstigen Bergen jenseits des Loch Achiemore. Der Loch selbst leuchtete silbern, eine seidenglatte Fläche, in der sich Berge, Himmel und die Bäume des nahen Waldes spiegelten. Es waren kaum Wolken da, nur einige ausgefranste Fetzen wie schmale Rauchfahnen. Der Tag versprach schön zu werden, anders als der gestrige.
    »Ein schöner Tag«, erklärte Mary Agnes heiter. »Guten Morgen, Madam.«
    Sie drehte sich um, straffte die Schultern, machte sich auf den Rückweg zur Tür und blieb stehen.
    Irgend etwas stimmte nicht. Vielleicht kam der Eindruck daher, daß es so still war, als hätte das Zimmer selbst den Atem angehalten. Oder vielleicht lag es an dem Geruch, der in der Luft hing, aufdringlich und widerlich süß, ähnlich wie der Geruch, der aufstieg, wenn ihre Mutter Fleisch klopfte. Oder an dem aufgebauschten Bettzeug, das dalag, als wäre es in aller Eile hochgezogen und so gelassen worden. Oder an der völligen Reglosigkeit darunter. Als rührte sich da niemand. Als atmete da niemand ...
    Mary Agnes stand wie angewurzelt da.
    »Miss?« flüsterte sie schwach. Dann ein zweites Mal, ein klein wenig lauter, denn es konnte ja sein, daß die Frau sehr fest schlief. »Miss?«
    Alles blieb still.
    Zögernd trat Mary Agnes einen Schritt näher ans Bett. Ihr!Hände waren kalt, ihre Finger steif, aber sie zwang sich, den Arm auszustrecken. Sie rüttelte vorsichtig am Bett.
    »Miss?« Aber wieder bekam sie keine Antwort.
    Wie von selbst umfaßten ihre Finger die Daunendecke und begannen, vorsichtig daran zu ziehen. Die Decke, klamm von der Kälte, hing einen Moment fest, dann glitt sie herab. Und Mary Agnes sah etwas Entsetzliches.
    Die Frau lag wie erstarrt auf ihrer rechten Seite, der Mund verzerrt, Kopf und Schultern in einer braunroten Blutlache. Ein Arm war ausgestreckt, mit offener Hand, wie in einer Gebärde des Flehens. Der andere war zwischen den Beinen eingebettet, als suche er Wärme. Das lange schwarze Haar war über das Kopfkissen gebreitet und lag zum Teil zu einer verfilzten Masse verklebt in dunklem Blut. Das Blut war schon leicht geronnen, so daß die roten, von Schwarz umrandeten Tropfen wie Blasen eines zähen Teufelstranks aussahen. Und die Frau selbst war, wie ein Insekt auf einer Schautafel, aufgespießt von einem Dolch mit Horngriff, der die linke Seite ihres Halses durchbohrt hatte und tief in die Matratze hineingetrieben war.

2
    Inspector Thomas Lynley erhielt die Nachricht kurz vor zehn am selben Morgen. Er war mit dem Landrover zur Castle Sennen Farm hinausgefahren, um sich die neuen Rinder anzusehen, und befand sich auf der Rückfahrt, als sein Bruder ihm auf dem Pferd entgegenkam und ihm zuwinkte. Es war bitter kalt, weit kälter, als für Cornwall selbst um diese Jahreszeit normal war, und Lynley kniff schützend die Augen zusammen, als er das Wagenfenster herunterkurbelte.
    »Superintendent Webberly hat angerufen«, berichtete Peter Lynley, während er die Zügel geschickt um seine Hand wickelte. Die Stute warf den Kopf zurück und wich zu der Mauer aus, die Straße von Feld abgrenzte. »Irgendwas von der Kriminalpolizei Strathclyde. Du sollst ihn so bald wie möglich zurückrufen.«
    »Das ist alles?«
    Die Stute tänzelte im Kreis, als wolle sie sich der Last auf ihrem Rücken entledigen, aber Peter lachte nur über diese Widerspenstigkeit. Einen Moment
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