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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Sternbergs frühe Werke« las.
    »Du bis das absolut Beste, was meinem Vater je widerfahren ist«, sagte er oft.
    »Dein Vater ist das Beste, was mir widerfahren ist«, pflegte sie Mal um Mal zu erwidern. »Ohne ihn hätte ich nie an Wunder glauben gelernt.«
    »Da hat die Dame Fortuna wenigstens einmal im Leben keinen Bock geschossen!«
    Tatsächlich war an dem erschrockenen kleinen Mädchen, dem beim Tod der Mutter eine schadenfrohe Nachbarin ein Leben im Waisenhaus und jeden Tag Bohnensuppe aus dem Blechnapf prophezeit hatte, ein zweifaches Wunder geschehen. Sie war von den Armen eines Vaters aufgefangen worden, dem es ein Himmelsgebot war, für sein Kind zu sorgen und Buße für seine Sünden zu tun. Zum Zweiten hatte dieser Vater eine ebenso außergewöhnliche Frau geheiratet. Betsy Sternberg, die betrogene Gattin, verzieh ihrem gestrauchelten Ehemann nicht nur seine Untreue mit einer Seelengröße, als wäre er ohne eigenes Verschulden vom rechten Wege abgekommen. Sie öffnete einem fremden Kind ihre Arme und ihr Herz, um es wie die eigenen zu lieben.
    »Nur weil du aus dir einen Narren gemacht hast«, sagte sie bald nach Annas Ankunft in der Rothschildallee, »werde ich doch nicht die garstige Stiefmutter spielen. Aschenputtel und Schneewittchen sind nicht in einer jüdischen Familie aufgewachsen.«
    Die Jugend verdrängte rasch und entschlossen, was der Krieg den Menschen angetan hatte. Für die Jungen lösten sich die Schrecken der Inflation und die Schatten der Depression in einem diffusen Nebel auf. Sie stürzten sich in ein neues Leben. Auch Anna lernte die Leichtigkeit des Seins schätzen – dank einem Vater, der die Wünsche seiner Töchter erfüllte, ohne von ihnen Dankbarkeit zu erwarten oder ihnen vorzuhalten, dass die Sparsamkeit ein Leben lang seine zuverlässige Begleiterin gewesen war. Hatte ihn auch das Alter nicht milde gestimmt, so war ihm ein Ja angenehmer geworden als das barsche Nein seiner frühen Vaterjahre.
    Annas Ziehmutter war klug genug, nicht nachzuzählen, wie viel Geld in die ausgestreckten Hände ihrer Töchter gelangte – und die mit dem einnehmenden Wesen unterließen es nie, Anna darauf hinzuweisen, dass »bescheidene Mädchen vielleicht in den Himmel kommen, aber auf Erden im Schatten stehen«. Leicht ließ sich Anna nicht verführen. Als Kind hatte es sie nicht nach den Sternen gedrängt, als junge Frau nicht nach Victorias Samtroben und Seidenkleidern und nicht nach der feuerroten Federboa, die diese mit einer Grandezza trug, als wäre sie schon die berühmteste Frankfurter Salondame. Auch Claras freche Auftritte, Futter für Klatschbasen aller Altersstufen, erweckten bei Anna keinen Nachahmungstrieb. Der schöne Schein und der kurze Rausch, Tand und Talmi waren ihr verdächtig. Ihren aparten Schwestern gönnte sie allzeit den Platz an der Sonne. Sie war die Erste, die ihnen Beifall spendete, doch sie selbst gelüstete es nach keinem bewundernden Ach.
    Die Sternbergtochter, die aus der Fremde gekommen war, begriff früh, dass im Leben nur die Zufriedenheit von Dauer ist. Mit zehn Jahren schrieb sie in das Poesiealbum einer Klassenkameradin »Es gibt nicht bloß Berge, es müssen auch Täler sein«. In ihrem Schönschreibheft stand »Fleiß und kluger Sinn bringen den sichersten Gewinn«. Victoria bekam einen Lachanfall, als die Mutter ihr Annas Heft mahnend zur Mittagssuppe servierte. Auf den Bildern, die Vicky, der Klassenliebling, damals malte, flanierten feine Damen mit weißen Hündchen und weißen Parapluies an weißen Strandkörben vorbei.
    »Anna hat mein Naturell geerbt«, sagte Frau Betsy, als das Jahr 1926 zum Abschied ansetzte. Sie strich, als wäre sie liebliche Siebzehn, eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Madame Sternberg hatte Augen, in denen das Licht noch hell war. Sie würde sich noch lange nicht auf die Suche nach der entschwundenen Zeit begeben müssen. Die Uhr in der Diele drohte laut tickend mit der Zukunft. Mit Pflaumenmus gefüllte Kreppel lagen auf Tante Jettchens blauer Kristallschale. Die Kerzen im Silberleuchter flackerten. Claudette gähnte so laut, dass es alle hörten. Erschrocken drückte sie ihre Hand auf den Mund. Es war das erste Mal, dass sie mit den Erwachsenen ein neues Jahr begrüßen durfte.
    »Deine Mama hat auch immer gegähnt, als sie so alt war wie du«, tröstete Josepha, »doch keine zehn Pferde hätten sie zu Silvester ins Bett bekommen.« Sie stellte ein rot lackiertes Tablett mit Sektkelchen und einer Flasche Feist, der
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