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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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späteren Jahren war es Annas Vater, der träumte. Es gab Nächte, in denen er nichts mehr von den Schmerzen in seinen Gelenken wusste und auch nichts von den Ängsten des Alters. Dann traf er sich mit Annas Mutter – immer noch heimlich und mit klopfendem Herzen und immer noch in seinem Comptor in der Hasengasse. In den Erinnerungen des Kaufmanns Sternberg war das Fräulein Haferkorn mit den blauen Augen und den Grübchen am Kinn immer noch so jung, so schön und so fröhlich wie in der Schicksalsnacht im Mai.
    Das bezaubernde Fräulein Fritzi Haferkorn, zur Zeit des Sündenfalls ihres hochverehrten Chefs die jüngste Angestellte in seiner Posamenterie und diejenige, die nie ein Korsett und oft sehr transparente Blusen trug, war die einzige Frau gewesen, die Johann Isidor Sternberg je dazu gebracht hatte, Moral und Prinzipien zu vergessen. Den Duft von Fritzis Haut, den Druck ihrer Schenkel, ihre leuchtenden Lippen, das Lachen und ihre Unbekümmertheit auf dem Flug zu den Wolken vergaß er nie. Obwohl er sich auf der Himmelsreise die Flügel versengt hatte, blieb er Fritzi, der Verführerin im zitronengelben Unterrock, ein Leben lang dankbar. Ohne sie hätte er nie die Leidenschaft geschmeckt und nie das alte Menschheitsbedürfnis gehabt, den Augenblick des Glücks für immer festzuhalten.
    Liebte er deshalb ihre Tochter Anna mehr als Clara, Victoria und Alice? Johann Isidor stellte sich die Frage oft, doch er wagte sich an keine endgültige Antwort. Er war nun sechsundsechzig, hatte weißes Haar und einen grauen Bart, war morgens trüben Sinnes und hatte an manchen Abenden Angst, er würde am nächsten Tag nicht mehr aufwachen. Sein Gedächtnis sang keine Frühlingslieder, wenn die Apfelbäume blühten, die Nase fing nicht mehr den Duft der Rosen ein. Der Magen war empfindlich, der Kopf rebellierte gegen Licht und Lärm, und der Spiegel war ein hämischer Chronist.
    Johann Isidor Sternberg, einst ein Mann von aufrechtem Gang und mit einem in die Zukunft gerichteten Blick, vermochte nur noch mit Anstrengung seine Schultern zu straffen. Für ihn verkündeten die Glocken keine Siege mehr, er betete nicht mehr für das Wohl seines Vaterlands. Er war ein Vater wie die vielen geworden, die am Heldentod ihrer Söhne litten und nach dem Wofür fragten.
    Ausgerechnet sein Vaterland, das mit allen Herzfasern geliebte, trieb Johann Isidor zu seinen Anfängen zurück. Wenn er an Heimat dachte, lief er nur noch über Vaters Wiesen in Schotten, und die Mutter flocht den Mohnzopf für den Sabbat. Für ihren Sohn war der schöne jüdische Traum aus der Kaiserzeit für immer dahin. In Deutschland würde kein Jude mehr ein Gleicher unter Gleichen werden. Die Emanzipation war im Weltkrieg hingerichtet worden, das Mittelalter zurückgekehrt.
    Den Juden hatte man ihre alten Rollen zugewiesen. Sie waren wieder die Sündenböcke, die sie in Zeiten der Not immer gewesen waren, und sie wurden für das deutsche Schicksal verantwortlich gemacht. Ihnen allein wurden der verlorene Krieg, die Inflation, Hunger und Arbeitslosigkeit angelastet.
    In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre wurden die antisemitischen Attacken im Land immer heftiger. Immer mehr Menschen reihten sich im Chor der Hassenden ein. Sie spien das alte Gift in Richtung der ungeliebten jüdischen Minderheit.
    Zunächst hielt sich der deutsche Bürger Sternberg noch an die Strategie, die ihn sein Leben lang vor unangenehmen Wahrheiten geschützt hatte. Er verschloss seine Augen vor der Wirklichkeit und wurde taub, aber schließlich siegte seine Klugheit doch. Er erkannte, dass seine lebenslange Bemühung, sich selbst zu betrügen, endgültig gescheitert war. Deutschland hatte nicht vor, je seine Juden als geachtete, gleichberechtigte Bürger zu akzeptieren. Der Verlust seiner Illusionen nahm Johann Isidor Kraft und Lebensmut. »Meine Zeit ist um«, sagte er einmal zu Betsy, und obgleich er nie gelernt hatte, das Schweigen seiner Frau zu verstehen, fiel ihm dieses eine Mal doch auf, dass sie hatte antworten wollen.
    Als Geschäftsmann blieb Johann Isidor dennoch der, der er immer gewesen war – geschickt, einfallsreich und mutig. Von seinem Schreibtisch aus schwenkte er das Hoffnungsbanner der alten Zeit. Seine Entscheidungen traf er mit der Spontaneität eines Menschen, der Grund hat, seinen Erfahrungen zu vertrauen. Das Haus in der Rothschildallee und das in der Glauburgstraße waren frei von Hypotheken und im besten Zustand, die Wohnungen alle gut vermietet. Einige hatten
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