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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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sie eine gestärkte weiße Serviette um den Hals gebunden hatte, vor den Hausherrn.
    »Früher«, seufzte der, »haben wir in der Neujahrsnacht Champagner getrunken, doch die Franzosen haben ja befohlen, dass die Deutschen nur noch Sekt trinken dürfen.« »Französischen Champagner darfst du ja so viel saufen, wie die willst, aber deutschen Sekt darf man nicht mehr Champagner nennen«, korrigierte sein Sohn.
    »Ganz schön raffiniert, die verdammte Grande Nation! Aber wenn die Herrschaften in Paris denken, dass wir jetzt alle ihren Champagner kaufen, haben sie sich gründlich geschnitten. Schon aus Stolz trinke ich nur noch deutschen Sekt.«
    »Prost, Monsieur«, sagte Erwin, »auf deinen Stolz. Da wissen wir wenigstens, wofür wir gekämpft haben.«
    »Unsere Anna ist wahrhaftig die einzige von euch, die das Talent zum Glück hat«, beharrte Betsy. Sie ließ sich nicht von einem Thema abbringen, das sie angeschnitten hatte, und von der Politik schon gar nicht.
    »Weh uns«, stöhnte Clara, schloss die Augen und schauderte. Victoria war nicht die einzige schauspielerische Begabung in der Familie.
    »Gut durchatmen«, rief Erwin, »und Ohren auf Durchzug.«
    Frau Betsys öffentliche Beschäftigung mit einem Kapitel ihres Lebens, das sie nie vollständig durchschauen würde, erforderte nach fast zwanzig Jahren keine Antworten mehr. Für den Rückblick reichten ihr Andeutungen und winzige Nadelstiche, eine Bewegung des Kopfes, die zufällig wirkte und es nicht war, ein Lächeln, das den Delinquenten stumm machte. Der ungewöhnliche Einpersonensketch gehörte ebenso zu Silvester wie das Stutzweck von den Bäckern, die kleinen Schornsteinfeger aus Pappe, die aus vierblättrigem Klee herauslugten, und das Sauerkraut, das in Frankfurt ein gut gefülltes Portemonnaie verspricht. Johann Isidor zündete eine Zigarette an und starrte in den Rauch.
    Als ihre Großmutter ihrem Großvater ein Kreppel in den Mund schob und ihm ein wenig vom Pflaumenmus aus dem Mund quoll, kicherte Claudette so, dass sie ihr Glas nicht mehr richtig halten konnte. Der Himbeersaft spritzte auf die teure gestickte Bluse aus Ungarn. Onkel Erwin klatschte und nannte sie ein entzückendes Ferkel. Claudettes elfjährige Tante Alice lächelte weise. Sie kannte sich besser aus im Beziehungsgeflecht zwischen Mann und Frau als in ihrem englischen Grammatikbuch. Der Papagei, die sprachgewandte Erinnerung an das verehrte Tantchen, krächzte seinen Namen. Er hieß Otto.
    »Ich finde es schön, dass Anna so viel von mir hat«, sagte Betsy, »ich meine, solche Wunder kommen ja nicht alle Tage vor.«
    Annas Wangen brannten. Sie knetete ihre Hände und hatte das Bedürfnis, sich bei allen Anwesenden dafür zu entschuldigen, dass sie mit am Tisch saß. Es machte sie alljährlich aufs Neue verlegen, dass die Zunge ihrer verehrten Ziehmutter ausgerechnet an Silvester zu scherzen beliebte.
    »Ich glaube«, nahm Anna Anlauf, doch sie konnte ihre Gedanken nicht lange genug festhalten, um sie auszusprechen, und schaute zu Boden; sie wünschte sich – wie seit ihrer Kindheit – die Eloquenz ihrer Schwestern und Erwins Schlagfertigkeit. Ihr Vater merkte, dass seine besondere Tochter litt; er beugte sich zu ihr hinüber. Seine Hand war nur einen Herzschlag lang auf ihrer Schulter, doch Anna fühlte die Wärme und spürte seinen Atem im Nacken. Sie steckte ihre Rechte in die Tasche ihres Rocks. Auch ihr Vater suchte nach seinem Taschentuch.
    Johann Isidor Sternberg hätte gern Anna Maria Haferkorn adoptiert und ihr seinen Namen gegeben, doch wegen seiner vier leiblichen Kinder und um Betsy nicht mehr zu kränken, als er es durch seinen Fehltritt getan hatte, unterließ er den juristischen Schritt. Trotzdem war sie sein Lieblingskind. Alle wussten es, keiner – selbst die geschwätzige kleine Alice nicht – ließ sich je anmerken, dass sie im Bilde waren. Erst am Tag vor ihrem zwölften Geburtstag hatte Anna erfahren, dass der Mann, den sie ihr ganzes Leben »Onkel Johann« genannt hatte, ihr leiblicher Vater war.
    Die Stunde der Erkenntnis schlug im Wintergarten. Bis dahin war die kleine Anna mit den dicken Zöpfen sicher gewesen, der gute Onkel Johann wäre von Gott persönlich mit der Anweisung bedacht worden, ein armes Waisenkind nach dem Tod der Mutter mit Samtkleidern, schwarzen Knopfstiefeln, Frankfurter Bethmännchen, einer grünäugigen schwarzen Plüschkatze, einem weiß lackierten Schreibpult und der aufregenden Spielgefährtin Victoria zu versorgen.
    In
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