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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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Zeitgeist und Moral zuteil. Freiheit war das Schlüsselwort. Zivilcourage und körperlicher Mut wurden ihr als die Waffe der Klugen anempfohlen. Das Leben dieser glücklichen Achtjährigen war so ungewöhnlich wie unbeschwert. Sie fragte ihre Mutter nie nach einem Vater auf Erden und selten nach dem im Himmel; sie durfte Bücher aus dem Regal holen, die anderswo vor Fünfzehnjährigen unter Schloss und Riegel gehalten wurden, und das Engelchen klärte sämtliche Freundinnen über den Umstand auf, dass der Storch keine Babys brachte und der Osterhase keine Eier legte.
    Keiner drohte Claudette mit dem schwarzen Mann und niemand mit der Hölle. Ohne dass ihre Mutter Einspruch erhob, durfte sie wie ein Bierkutscher fluchen; sie prügelte sich mit Gassenjungen, wenn sie ihr Fahrrad verteidigen musste, und sie lehrte Rivalinnen, die es wagten, an ihrer Ehre zu zweifeln, das Fürchten. Die beherzte Amazone mit der Zahnlücke bemalte ihre Fingernägel rot, probierte Mutters Lippenstift und Hüte aus und brauchte nie wie andere Kinder ihren Teller leer zu essen, Lebertran zu schlucken oder in der Ecke zu stehen, um Buße für eine Kindersünde zu tun. Sie wurde von ihrer Mutter und von blendend aussehenden Männern, die erfolglos um diese schöne Mami warben, mit in exquisite Lokale genommen. Dort durfte sie so lange Windbeutel und Mohrenköpfe essen, bis ihr schlecht wurde und einer der starken jungen Männer sie nach Hause tragen musste.
    »Heute haben wir frische Liebesknochen«, sagte der grauhaarige Kellner im Café Hauptwache.
    »Eclairs«, verbesserte Mademoiselle Claudette, denn sie kannte sich in der großen Welt besser aus als andere Mädchen in ihrer Schulfibel.
    Schneewittchens Zwerge und Aschenputtels Nöte waren ihr gleichgültig. Hänschen klein zog bei ihr nicht in die Welt hinaus, kein Vogel machte Hochzeit, aber Charleston konnte sie tanzen, und sie liebte den Cancan. Tante Victoria war ihre Lehrmeisterin. Nichts wusste Claudette von Noahs Arche oder dem Apfelbaum im Paradies, doch erzählte ihr die vergötterte Frau Mama wunderbar anschaulich von Cleopatra, die sich der Liebe wegen in einen Teppich hatte wickeln lassen.
    »Ohne Hemd und Höschen«, berichtete Claudette ihrer schockierten Großmutter, »ganz, ganz nackt war sie. Onkel Erwin hat gesagt, alle Männer haben sich ganz toll gefreut.«
    »Unsere Tochter sollte sich schämen«, beklagte sich Frau Betsy bei ihrem Mann, »und ihr Herr Bruder ebenfalls. Einem kleinen unschuldigen Mädchen so etwas zu erzählen. Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als meinen Kindern so etwas zu sagen.«
    »Zum Schämen ist es zu spät«, seufzte Johann Isidor. »Wenn sich hier einer schämen muss, sind wir es, meine Liebe. Wir haben als Eltern komplett versagt. Wenn du mich fragst, bei Victoria und Alice ebenfalls. Von Erwin ganz zu schweigen.«
    Ein Jahr zuvor, an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag, hatte er geschworen, sich nie wieder in seinem Leben über eines seiner Kinder aufzuregen. »Meine Zunge soll mir abfallen«, hatte er trotz der vielen Gäste beteuert, »wenn mir je wieder ein Wort der Klage über die eigene Brut entschlüpft.« Es war, wie alle Schwüre, nur eine öffentlich erklärte Absicht gewesen, ein Traum in einem Meer von Illusionen. »Unsere Clara hat sich nie geschämt, für nichts«, erinnerte er seine Frau, als sie ihm von Claudette und Cleopatra erzählte.
    »Sie war viel zu jung, um zu begreifen, worauf sie sich einließ«, sagte Betsy. Sie sagte das immer, wenn von Clara die Rede war, doch sie hörte nie auf, sich Vorwürfe zu machen.
    »Seitdem ist sie immerhin acht Jahre älter geworden. Irgendwann muss ihr doch aufgehen, dass sie nicht zu ihrem Vergnügen auf der Welt ist. Ihr Herr Bruder wittert doch auch mit zarten sechsundzwanzig den Ernst des Lebens«, bemerkte Johann Isidor.
    Frau Betsy verabscheute ihren Gatten, wenn er ironisch wurde. »Mach dich nicht unglücklich«, sagte sie. »Wer weiß, was das Leben uns noch bringt. Es ist eine Sünde, die Hoffnung aufzugeben.«
    »Du hast ja so recht, meine Liebe. Schau dir den Sohn des alten Wolf an. Der hält Bridgespielen für einen Beruf, aber mit fünfzig hat er ein Vermögen gemacht.«
    »Wirklich?«
    »Ich schwöre es. Das schlaue Kerlchen hat vier Tage nach dem Tod seines Vaters das Haus in der Wielandstraße verkauft. Das wird doch unser Erwin mit meinen Häusern auch eines Tages schaffen. Falls er nicht in den Main springt, wenn er erfährt, dass ich dich zu meiner
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