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02 Die Kinder der Rothschildallee

02 Die Kinder der Rothschildallee

Titel: 02 Die Kinder der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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»niederschmetternd typisch für unsere Zeit«, dass die Menschen, selbst die Leute vom Theater, sie verständnislos anschauten, wenn sie mit sonorer Stimme ihre Sicht der Welt darlegte.
    Auch ihre ältere Schwester hatte Schwierigkeiten mit der Zeit, in der sie lebte. Sie war ausschließlich von jenen gut gelitten, die sich, wie sie, frei vom »Muff der Spießer« wähnten. Clara Sternberg war nun sechsundzwanzig, ledig und ohne Aussicht auf Veränderung ihres Familienstands. Sie trug ihr Schicksal erhobenen Hauptes und rechtfertigte sich weder bei Freund noch Feind für den Weg, den sie gegangen war. Die, die Bescheid wussten, befanden unter vorgehaltener Hand, ein solcher Stolz käme selbst einer Sternberg nicht zu; das würde, wussten sie, die Zukunft erweisen. Frau Winkelried, die Putzfrau, sprach es am deutlichsten aus. »Das Fräulein Clara«, pflegte die aufrichtige Seele mit Volkes Stimme zu schelten, »ist ein gefallenes Mädchen.«
    Selbst Josepha mit dem Herzenstalent, Frau Betsys Kinder so zu lieben, als wären es die eigenen, gelang da kein überzeugender Widerspruch. Frau Winkelried war, nachdem die wirtschaftlichen Verhältnisse der Oberschicht wieder leidlich ins Lot gekommen waren, im Hause Sternberg als Putzfrau fürs Grobe engagiert worden. Freitags wurde sie auch zu Clara in den vierten Stock geschickt. Dort scheuerte sie mit verkniffener Miene und moralischer Empörung Küche, Bad und Haustreppe. Gertrud Winkelried war als Kriegswitwe mit karger Pension und drei Kindern, die allesamt noch in der Schule und nicht satt zu bekommen waren, auf den zusätzlichen Verdienst bei Clara angewiesen. Jedoch ließ sie ständig sowohl ihre Familie als auch Josepha wissen, dass allein Mutterliebe und Not ihr geboten, »für so eine zu schaffen«.
    Seit exakt acht Jahren und neun Monaten weigerte sich nämlich Fräulein Clara, den Vater ihres Kindes anzugeben. Selbst die eigenen Eltern mochten ihr die Absage an die bürgerliche Moral nicht verzeihen und schon gar nicht, dass sie weder Scham noch Reue zeigte. Claras Geschwister hingegen standen fest an ihrer Seite. Für Victoria war die ältere Schwester eine Heldin, die für das Recht der Frauen auf freie Liebe kämpfte. Anna und die kleine Alice waren stumme Bewunderer. Erwin, der geliebte Zwillingsbruder, selbst ein Rebell, der Kompromisse als Sünde verachtete, zollte ihr offenen Beifall. »Nicht jede jüdische Mutter findet einen gutmütigen Zimmermann, dem sie ihr Kind unterschieben kann«, beschied Erwin seinem Vater, als der sich wieder einmal über die deutsche Jugend im Allgemeinen und über Clara im Besonderen beklagte.
    Erwin setzte sich sein giggelndes Nichtchen Claudette auf den Schoß, bekränzte sie mit Petersilie und Liebstöckel und sang mit ihr abwechselnd »Auf in den Kampf, Torero« und »Die Liebe vom Zigeuner stammt«. Das führte bei Claudettes Großeltern zu Irrungen und Wirrungen von ungeheurem Ausmaß. Im vierten Stock hatte zur Zeit von Claras Sturz aus dem Himmel der wohlerzogenen Jungfrauen nämlich ein Opernsänger gewohnt, schön wie Apoll und ein Frauenfänger wie Blaubart. Die romantische Spur war allerdings vom nichtsnutzigen Erwin, der seinerseits absolut im Bilde war, wem er seine putzige kleine Nichte verdankte, bewusst falsch gelegt worden.
    Ein Kind der Liebe war die kleine Claudette allemal gewesen und schon als Achtjährige eine typische Sternberg– mit Augen, die wie Sterne funkelten, und Lippen, die früh Männerträume entzünden würden. Schon jetzt balgten sich auf der Burgstraße kleine Buben, um für die Schülerin Claudette Sternberg den Ranzen in die Merianschule tragen zu dürfen. Noch ehe sie das Wort Diva kannte, war sie eine. Die Schnittmuster für ihre Kleider ließ die Mutter aus Paris kommen, die breiten Haarschleifen stammten aus Großvaters Posamenterie. Die Söckchen waren weiß wie Schneeglöckchen, die Schuhe zierlich wie die von Aschenputtel, als sie aus der goldenen Kutsche stieg. Die künftige Königin hatte schwarze Ringellocken und hochstehende Backenknochen, die ihr schmales Gesicht noch zusätzlich veredelten. Selbst wenn sie Josephas Speisekammer plünderte und aus Großmutters Nähkorb die schönsten Knöpfe stibitzte, sah sie so unschuldig aus wie eine Barockputte. Raffiniert war sie wie Salome, entschlossen wie die Jungfrau von Orleans, und wenn sie einmal weinte, glitzerten ihre Tränen wie Perlen und bezauberten die Engel im Himmel.
    Claudette Sternberg wurde eine Erziehung wider
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