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01 Jesses Maria: Kulturschock

01 Jesses Maria: Kulturschock

Titel: 01 Jesses Maria: Kulturschock
Autoren: Carla Berling
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Bis die Pohlmann eines Tages außer Atem vor meiner Tür stand und sagte: „Berichterstattung. Es sind Ausländer!“ Tolle Nachrichten. Später rief sie dann an und sagte: „Berichterstattung: Er soll Arzt sein.“ Und dann kamen peu a peu die ganzen Neuigkeiten ans Tageslicht. Ohne die Berichterstattung wüsste ich heute nichts über die Leute, mit denen ich gezwungenermaßen nicht nur unter einem Dach, sondern sogar auf einer Etage wohne. Als Frau Pohlmann damals einzog, das ist auch schon wieder fünf Jahre her, die Zeit vergeht, da hat sie sich auch überall vorgestellt. So gehört sich das, dann gibt‘s auch keinen Ärger. Obwohl die Pohlmann mir ganz schön auf die Nerven geht. Die immer mit ihren Krankheiten. Dauernd hat sie was Neues. Gürtelrose, Rheuma, Arm gebrochen. Als sie einzog, hatte sie es mit den Beinen. Die waren offen. Da hat sie immer Digital-Fotos gemacht und im Haus rumgezeigt. Fotos von offenen Beinen. Ekelhaft! Sogar dem Sauer aus dem Erdgeschoss hat sie die Bilder gezeigt. Sie hat ihn gefragt, ob er ihr von den Fotos eine CD machen kann, damit sie die an ihre Freundin Annemie in Solingen-Ohligs schicken kann. Frau Pohlmann zeigt auch ihre Röntgenbilder rum, dann sagt sie immer „Mein Arzt meint…“ Ihr Arzt. Als hätte sie den extra engagiert.
    Man darf nie zu ihr sagen: „Wie geht‘s?“ Dann hat man verloren und steht eine Stunde im Treppenhaus. Sie sagt dann: „Wie es mir geht? Das wollen Sie nicht wirklich wissen.“ Und bevor man sagen kann, dass sie damit auch wieder Recht hat, legt sie los. Ich kenne alle ihre Werte und ihren Körper von innen und aussen. Wegen der Röntgenbilder und der Ultraschallfotos. Als ob das einen interessiert. Sie hat keine Kinder, denen sie von ihren Krankheiten erzählen könnte, deswegen müssen die Hausbewohner herhalten. Irgendwann hatte sie angeblich einen Schlaganfall. In Wirklichkeit war es ein klitzekleiner Hörsturz, aber sie macht immer gleich ein Drama draus. Das Allerneuste: Jetzt hat sie angeblich einen Gehirntumor. Bin gespannt, wann davon die neuesten Fotos kommen. Na ja. Zur Not ist ja jetzt ein Arzt im Haus.

Westfälisches Begräbnis
    Ich mag keine Beerdigungen, aber manchmal muss man einfach mitgehen. Heute habe ich sogar meinen letzten Urlaubstag geopfert. Dabei war Onkel Willi nicht mal mein richtiger Onkel, sondern nur angeheiratete Verwandtschaft. Wäre er ein Verwandter ersten Grades gewesen, hätte ich einen Tag Sonderurlaub bekommen.
    Vielleicht sind wir ja früh fertig, dann hab ich wenigstens noch was von meinem freien Nachmittag und kann endlich das Wohnzimmerfenster putzen.
    Ich weiß nicht, warum hier alle heulen, Onkel Willi war neunundsiebzig. Das ist ein schönes Alter. Heulen muss ich nicht, obwohl es traurig ist, dass er nicht mehr da ist. Man darf bei aller Trauer aber auch nicht vergessen, was für ein Ekel er sein konnte.
    Hermann Düker zum Beispiel hatte ständig Streit mit ihm. Wegen der hohen Tannen auf Onkel Willis Grundstück hat Hermann Onkel Willi mal verklagt. Weil die Tannen bei Dükers im Wintergarten die Abendsonne verdeckten. Die Tannen mussten weg. Aber Onkel Willi hat sich fürchterlich gerächt und dem Düker monatelang Päckchen von Beate Uhse schicken lassen. Keiner weiß, was in den Päckchen drin war, aber man kann sich das ja denken. Das war ein Theater! Geschrei am Jägerzaun, Waschpulver im Gartenteich, abgeschnittene Narzissen im Vorgarten und Hundescheiße in einer brennenden Zeitung vor der Haustür. DükersHermann hatte natürlich versucht, draufzutrampeln, um sie löschen. Das hätte ich zu gerne gesehen. Anzeigen, Gegenanzeigen. Die ganze Nachbarschaft hat sich amüsiert. Nur Frau Düker fand das nicht lustig. Sie ist dann später nach Gütersloh zu ihren Kindern gezogen. Und heute heult der alte Düker bei Willis Begräbnis, als wäre sein bester Freund gestorben. Ob er seine rote Nase vom Saufen oder vom Heulen hat?
    Neben ihm sitzt Edgar Pieper, der feiert jede Beerdigung mit. „Wenn irgendwo ein Fell versoffen wird, ist Edgar dabei“, hat Eva Hansmeier im Lottoladen gestern gesagt.
    Was es wohl nachher zu essen gibt? Die werden hoffentlich Vormittags keinen Platenkuchen servieren. Platenkuchen ist was für nachmittags.
    Jetzt ist es halb zwölf, in einer halben Stunde müssten wir in der Kapelle mit allem durch sein, dann kommt der Trauerzug zum Grab und dann ab zum Imbiss im Sachsenkrug. So steht’s in der Einladung.
    Gut, dass ich letzte Woche beim Friseur war, sonst
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