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01 - Gnadenlos

01 - Gnadenlos

Titel: 01 - Gnadenlos
Autoren: Tom Clancy
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er, ohne nachzudenken.
    »Na klar!« Ohne zu zögern, riß sie die Tür auf und schmiß ihren Rucksack auf den Boden am Beifahrersitz.
    Das Eingliedern in den Verkehr war gefährlich. Der Scout mit seinem kurzen Radabstand und den wenigen PS war nicht für Schnellstraßen gebaut, und Kelly mußte sich konzentrieren. Die Geschwindigkeit des Wagens reichte nur für die rechte Fahrspur aus, und da an jeder Kreuzung immerzu jemand ein- oder abbog, mußte er auf der Hut sein. Der Scout war nicht wendig genug, daß er allen Idioten ausweichen konnte, die zum Meer fuhren oder wohin zum Teufel sie auch immer an einem verlängerten Wochenende unterwegs waren.
    Wollen Sie mitkommen? hatte er gefragt, und sie hatte darauf erwidert: Na klar. Was zum Teufel hatte er sich nur dabei gedacht? Kelly zog die Stirn in Falten, nicht nur, weil der Verkehr ihn nervte, sondern vor allem, weil er die Antwort nicht wußte. Aber in den letzten sechs Monaten hatte es eine Menge Fragen gegeben, auf die er keine Antwort wußte. Er brachte seine Gedanken zum Schweigen und konzentrierte sich auf den Verkehr, aber sie bohrten im Hinterkopf hartnäckig weiter. Die eigenen Gedanken gehorchen einem eben selten.
    Memorial-Day-Wochenende, dachte er. Die Autos um ihn herum waren vollbesetzt mit Leuten, die von der Arbeit heimfuhren oder den Weg bereits hinter sich und ihre Familien abgeholt hatten. Kindergesichter starrten aus den Rückfenstern. Ein oder zwei Kinder winkten ihm zu, aber Kelly tat so, als habe er es nicht bemerkt. Es war schwer, keine Seele zu haben, besonders, wenn man sich erinnern konnte, daß man einmal eine gehabt hatte.
    Kelly fuhr sich mit der Hand ans Kinn: rauh wie Sandpapier. Die Hand selbst war schmutzig. Kein Wunder, daß sie sich im Lebensmittelmarkt so komisch benommen hatten. Läßt dich gehen, Kelly.
    Und? Wen zum Teufel juckt das?
    Er wandte sich seiner Mitfahrerin zu und merkte, daß er ihren Namen nicht kannte. Er nahm sie mit auf sein Boot und wußte nicht einmal, wie sie hieß. Seltsam. Sie starrte mit heiterem Gesicht nach vorn. Im Profil war es ein hübsches Gesicht. Sie war dünn - vielleicht war gertenschlank das richtige Wort -, ihr Haar so zwischen blond und braun. Ihre Jeans war an einigen Stellen abgewetzt und zerrissen und stammte aus einem jener Läden, wo sie einen Aufpreis für vorgebleichte Ware verlangten - oder was auch immer sie damit anstellten. Kelly wußte es nicht, es war ihm auch egal. Eine Sache mehr, um die er sich nicht zu scheren brauchte.
    Herrgott, wie konntest du nur so herunterkommen? wollte sein Verstand von ihm wissen. Er wußte die Antwort, aber auch das war keine vollständige Erklärung. Verschiedene Bereiche des Organismus, der John Terence Kelly hieß, wußten jeweils einen Teil der ganzen Geschichte, aber irgendwie wollte sich nie alles zusammenreimen. Von dem, was einst ein harter, gewiefter, entschiedener Mann gewesen war, blieben nur vereinzelte Fragmente, die wirr durch die Gegend stolperten - und spielte da nicht auch Verzweiflung mit? Was für ein ungemein tröstender Gedanke.
    Er erinnerte sich an sein früheres Leben. Er entsann sich all dessen, was er überlebt hatte; daß er überlebt hatte, erstaunte ihn noch immer. Und wohl die schlimmste Qual überhaupt war die, daß er nicht verstand, was schiefgegangen war. Sicher, er wußte, was geschehen war, aber das war alles äußerlich gewesen, und irgendwie war ihm das Verständnis der Dinge um ihn herum abhanden gekommen, und nun lebte er verwirrt und ziellos dahin. Er bewegte sich wie ein Automat. Das wußte er, aber nicht, wohin das Schicksal ihn führte.
    Wer sie auch war, sie versuchte gar kein Gespräch, und das kam Kelly gerade recht, obwohl er spürte, daß da etwas war, was er wissen sollte. Die Erkenntnis kam überraschend, rein instinktiv, und er hatte schon immer seinen Instinkten vertraut, diesem kalten Schauer, der ihm wie zur Warnung über Arme und Rücken lief. Er sah sich nach dem Verkehr um und konnte nichts Gefährlicheres entdecken als Autos mit zuviel PS unter der Haube und zuwenig Verstand hinterm Lenkrad. Seine Augen suchten alles sorgfältig ab und fanden nichts. Aber das warnende Gefühl verschwand nicht, und Kelly ertappte sich dabei, wie er aus unerfindlichen Gründen immer wieder in den Rückspiegel sah, während seine Hand zwischen den Beinen hindurchlangte und nach dem geriffelten Griff seines automatischen Revolvers fühlte, der versteckt unter dem Sitz hing. Erst da wurde ihm bewußt, daß er
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