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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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werden.«
    Johann Isidor Sternberg war weder abergläubisch noch fromm. Trotzdem widerstrebte es ihm, Zukunft zu beschwören. Er schaute erst auf den gewölbten Leib seiner Frau und dann zum Stuck an der Zimmerdecke. »So Gott will«, sagte er leise.

2
FRÜHLINGSERWACHEN
    Frankfurt, 21. März 1910
    Frau Betsy saß auf der mit kirschrotem Plüsch bezogenen Récamière vor dem weiß lackierten Wiener Kaffeehaustisch, den ihr Mann ihr zum fünfzehnten Hochzeitstag für den Wintergarten geschenkt hatte. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen klappte sie das Buch zu, in dem sie die letzte halbe Stunde mehr geblättert denn gelesen hatte. In jeder Gesellschaft kam neuerdings einer auf »Königliche Hoheit« von Thomas Mann zu sprechen. Der Roman war im Vorjahr erschienen, und Betsys Freundin Margot Einstein, die als ein Blaustrumpf galt und deshalb ledig geblieben war, hatte beim Dienstagskränzchen im Café Hauptwache wieder einmal von der »raffinierten Romankonstruktion« geschwärmt. Obwohl Betsy durchaus für moderne Literatur empfänglich war, fand sie den Roman weit weniger animierend als den Titel; dass der Autor ein fiktives deutsches Fürstentum zum Schauplatz seiner Geschichte genommen hatte, irritierte sie. Gerade weil sich Madame Sternberg für den deutschen Adel interessierte, legte sie Wert auf Authentizität.
    Ihrer Meinung nach war »Königliche Hoheit« jedenfalls nicht mit den »Buddenbrooks« zu vergleichen, die sogar Johann Isidor gelesen hatte, obgleich er Romane nicht mochte und Männer, die solche lasen, für verweichlicht hielt. Betsy schauderte, als sie sich erinnerte, dass sie Johann Isidor nur mit der allergrößten Mühe davon hatte abhalten können, bei einem Diner im Hause des Germanistikprofessors Dr. Dr. Eduard Sohle allen Anwesenden seine Meinung über Literatur und Heldennaturen mitzuteilen.
    Der hoch angesehene Handelsmann Sternberg, der seine Erfolge der Eigenschaft verdankte, dass er im richtigen Moment schweigen konnte und dies meistens auch tat, hatte zum Abschluss des sechsgängigen Menüs reichlich Camembert gegessen und vier Gläser Burgunder getrunken – er vertrug weder das eine noch das andere; die warnenden Blicke seiner Frau hatten ihn nicht mehr erreicht, und sie hatte den enervierenden Redefluss nur mit einer abrupten Unterbrechung stoppen können, die nicht nur allen Anwesenden, sondern auch ihr selbst als besonders unweiblich missfiel. Trotzdem hatte Betsy ihren Gatten zu Hause mit kalten Kompressen auf dem Kopf und warmen Tüchern auf dem Leib behandelt und ihm selbstverständlich keine Vorhaltungen gemacht.
    Betsy schaute ins Esszimmer. Dort hing seit drei Tagen der stolze Hausherr in Öl und modernem Holzrahmen, neben dem Bild vom seligen Onkel Heinrich. Johann Isidor selbst war am frühen Morgen zu wichtigen Bankgeschäften und Verhandlungen mit einer aufstrebenden Textilmanufaktur nach Paris abgereist. Für seine Frau bedeutete das, sie würde vier Tage lang nur ihre Kinder, das Hauspersonal und die Nachbarinnen sehen, die gleich ihr auf der Höhenstraße und der Bergerstraße einkauften. Obwohl ein solches Programm kaum Abwechslung versprach, war Betsy in gehobener Stimmung. Sowohl das Wetter als auch der Kalender zeigten Frühjahrsanfang an.
    Die Natur hatte früh begonnen, den alljährlichen Zauber einzuläuten. Im Vorgarten blühten Buschwindröschen, in der chinesischen Vase auf dem kleinen Empiretisch dufteten die ersten Veilchen, die Blumenfrauen in der Stadt boten Narzissen und Vergissmeinnicht an und herrliche langstielige Rosen aus dem Treibhaus. Die kleinen Mädchen trugen weiße Strümpfe und mutige Buben nackte Knie.
    Die Vögel waren wieder in den Hinterhof eingezogen. Die Herrin des Hauses Rothschildallee 9 hörte die Meisen zwitschern und die Tauben gurren. Sie öffnete das große Wintergartenfenster, schaute hinunter, atmete tief ein und spürte den alten Kinderdrang, eine Wolke vom Himmel zu holen. Der Sauerkirschbaum hatte Knospen. Ein Forsythienstrauch flaggte butterblumengelb, die Wäschebleiche leuchtete hoffnungsgrün. Betsy summte das Lied »Jetzt fängt das schöne Frühjahr an, und alles fängt zu blühen an«. Sie erinnerte sich an ein rosa Flügelkleid und einen Jüngling namens Carl Theodor, der ihren Namen in eine Birke geritzt hatte. Mit dem Hauch eines Seufzers kehrte sie aus der alten Heimat zurück und nahm sich vor, das gute Wetter zu nutzen, um die seidenen Sofakissen gründlich zu lüften, die Teppiche im Hof ausklopfen und
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