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0068 - Die Geisternacht

0068 - Die Geisternacht

Titel: 0068 - Die Geisternacht
Autoren: Hans Wolf Sommer
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Zeit und die Wirrnisse der Geschichte spurlos vorbeigingen. Über diese Berge waren einst die aztekischen Militärkolonnen gezogen, um an den fruchtbaren Gestaden der Golfküste ihre Eroberungsgelüste zu befriedigen. Und in umgekehrter Richtung war die Konquistadorenhorde des Hernando Cortez gekommen, um das Aztekenreich mit Schwert und Feuer zu zerschlagen. Die Berge beeindruckte dies alles nicht. Der Rauch aus ihren Kratern schwebte – im wahrsten Sinne des Wortes – über diesen Dingen.
    Bill lenkte den Wagen, einen dunkelbraunen Chevrolet, jetzt in die Stadt. Sie hatten ein festes Ziel. Calle de Xochimilco 138, die Adresse des Pepe Chilapa, die der Professor bei der Polizei in Erfahrung gebracht hatte.
    Sacromonte war ein kleines Städtchen, aber für Fremde war es dennoch schwierig, sich zurechtzufinden, zumal man von Straßenbezeichnungen nicht viel zu halten schien.
    Bill lenkte den Wagen an den Straßenrand. Zamorra, der auf dem Beifahrersitz saß, kurbelte das Seitenfenster herunter und sprach den ersten Passanten an, der des Weges kam.
    »Wie kommen wir in die Calle de Xochimilco, Señor?«
    Der Befragte, ein älterer Mann in Landestracht, reagierte ungewöhnlich. Er starrte Zamorra mit großen Augen und zitternden Mundwinkeln an. Dann schlug er ein Kreuz und ging hastig davon, verstohlene Blicke über die Schulter zurückwerfend.
    Der Professor blickte verblüfft in den Rückspiegel, um sein Konterfei zu betrachten.
    »Bin ich schwarz im Gesicht? Habe ich sonst was Komisches an mir?«
    »Auf mich machst du eigentlich einen ganz normalen Eindruck«, stellte Bill fest.
    »Kannst du mir dann sagen, warum der Bursche weggelaufen ist, als ob ich zwei Hörner auf der Stirn hätte?«
    Bill konnte es nicht.
    Zamorra versuchte sein Glück ein zweites Mal. Diesmal kam eine Frau in mittleren Jahren vorbei, die ein schreiendes Kind im Rucksackverfahren durch die Gegend beförderte. Der Professor wiederholte sein Auskunftsbegehren.
    Auch dieses Mal konnte von einer normalen Reaktion keine Rede sein. Die Frau musterte ihn sekundenlang, lachte dann laut auf und wanderte weiter, ohne seine Frage zu beantworten. Zamorra hörte sie noch etwas murmeln, das sich ungefähr anhörte wie »Das gibts doch gar nicht!«
    »Wenn du deinen Charakterkopf vielleicht ein bisschen verstecken würdest…«, schlug der Amerikaner nach diesem gescheiterten zweiten Versuch vor. »Schließlich wollen wir ja hier auf der Straße nicht überwintern.«
    Zamorra lehnte sich in die Polster zurück und überließ Bill den nächsten Passanten. Fleming hatte sofort Erfolg, obgleich sein stark akzentuiertes Spanisch sich mit der perfekten Aussprache des Professors in keiner Weise messen konnte.
    »Na also«, sagte er zufrieden, als er das Fahrzeug wieder auf die Fahrbahn lenkte.
    Die Calle des Xochimilco war eine ärmliche Straße mit ärmlichen Häusern und ärmlichen, aber sauber aussehenden Menschen. Das Haus der Chilapas, erbaut aus Backsteinen und Lehm, passte genau in diesen Rahmen. Die mexikanische Bevölkerung besteht weitgehend aus Mestizen, aus Verbindungen zwischen Weißen und Indios geboren. In dieser Gegend hier schien jedoch das rein indianische Element weitgehend erhalten geblieben zu sein.
    Die Ankunft des Straßenkreuzers kam so etwas wie einer kleinen Sensation nahe. Man war es hier wohl nicht gewohnt, ›hohen‹ Besuch zu empfangen. Die halbe Nachbarschaft, insbesondere Kinder und Frauen, bauten sich auf und schnatterten wie die Papageien, mit denen sie außerdem noch die malerische Buntheit der äußeren Erscheinung gemeinsam hatten.
    Die drei stiegen aus. Augenblicklich trat ein gegenteiliger Effekt ein. Die Neugierigen wichen zurück. Frauen nahmen ihre Kinder hoch, brachten sie unter ihren Schürzen in Sicherheit. Kreuzzeichen wurden geschlagen, die Jungfrau von Guadalupe angerufen, Rosenkränze in den Fingern gedreht.
    Zamorra hatte es abermals geschafft, die Leute völlig durcheinander zu bringen. Kopfschüttelnd folgte er Nicole und Bill zur Haustür der Chilapas.
    Auf ihr Klopfen wurde sofort geöffnet. Ein älterer Indio erschien im Türrahmen. Sein Verhalten konnte nach dem Vorangegangenen kaum noch verwundern.
    Er fiel vor dem Professor auf die Knie, küsste den Staub von seinen Füßen.
    »Xamotecuhtli! Hoher Herr, welche Ehre erweist Ihr meinem armseligen Haus!«
    Er konnte sich vor Ehrerbietigkeit kaum noch übertreffen, wälzte sich förmlich vor Zamorras Füßen, wirkte wie eine Matte, die zum Schuhabtreten
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