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0063 - Der Hüter des Bösen

0063 - Der Hüter des Bösen

Titel: 0063 - Der Hüter des Bösen
Autoren: Hans Wolf Sommer
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einem Raubtier, wie es allerdings in keinem Tierbuch zu finden war. Das Entsetzlichste an den Götzen waren jedoch die Augen. Sie schienen zu leben, funkelten wie glühende Kohlen. Giraudoux dachte zuerst, dass man ihnen irgendwelche riesigen Edelsteine in die Augenhöhlen eingepasst hatte. Aber er ließ diesen Gedanken schnell wieder fallen. Kein Diamant der Erde entwickelte ein solches Feuer.
    Er schlug die Augen nieder, konnte den Anblick nicht länger ertragen. Zwar sagte er sich immer wieder vor, dass sein Verhalten höchst albern sei. Angst vor ein paar dummen Steinfiguren, das war ja lächerlich. Aber sein eigener Zuspruch nutzte ihm wenig. Jawohl, er hatte Angst, animalische, tiefempfundene Angst.
    Seine stillen Befürchtungen, dass der Altar und die beiden Götterbildnisse zum Mittelpunkt des kommenden Geschehens ausersehen waren, bewahrheiteten sich.
    Die Gruppe der Einheimischen teilte sich. Die eine Hälfte, mit ihm in der Mitte, bezog Position vor dem vogelartigen Ungeheuer, die restlichen Heiden und Mouslin stellten sich vor der abartigen Raubtierfratze auf.
    Der Oberpriester gesellte sich keiner der beiden Gruppierungen zu, sondern stieg die Altarstufen hoch. Sein buntes Gewand erstrahlte in unirdischem Glanz.
    Die Zeremonie begann. Sie war für Giraudoux ein einziger Alptraum, an den er sich später nur noch bruchstückhaft erinnern konnte. Stimmen, die nicht von Menschen zu stammen schienen, tierhaft und unwirklich, stimmten einen quälenden Gesang an, der die Haare zu Berge stehen ließ. Gerüche, die sich in ihrer Fremdartigkeit gar nicht beschreiben ließen, lähmten seine Geruchsnerven. Exotische Essenzen, Myrrhe, Weihrauch, tausend andere mehr, ließen die Augen tränen. Eine Aura des Unheimlichen, geboren aus Wahnsinn und Irrealität, erfüllte den ganzen Tempel.
    So sehr er sich auch dagegen wehrte, eine Kraft, die stärker war als er, zwang Giraudoux, die niedergeschlagenen Augen zu heben, sie auf die Götzenfigur vor ihm zu richten. Das nackte Entsetzen fuhr in seine Glieder.
    Der Götze lebte!
    Nicht nur die feurigen Augen bewegten sich. Nein, die ganze riesige Gestalt schien sich anzuschicken, das Podest zu verlassen. Er sah deutlich, wie Beine, Arme und Torso der Statue zuckten. Vor Furcht schon halb tot, gab er sich selbst auf. Er glaubte nicht mehr daran, diesen Tempel jemals wieder verlassen zu können.
    Wie durch einen Nebelvorhang erkannte er, dass der Oberpriester den Altar verlassen hatte und auf ihn zukam. Er wollte zurückweichen, sich umdrehen, weglaufen, so schnell er konnte, aber er war nicht in der Lage, seine Beine zu bewegen. Die Muskeln gehorchten ihm nicht. Willenlos musste er hinnehmen, dass der Priester ganz dicht an ihn herantrat und ihm etwas um den Hals hängte.
    Plötzlich spürte er in seinen Gliedern ein seltsames Reißen. Sein Blut kam ihm vor wie Lava, die alles versengend durch seine Adern floss. In seinem Gehirn explodierte eine Bombe. Unsichtbare Granatsplitter breiteten sich nach allen Seiten aus.
    Dann war er nicht mehr imstande, überhaupt noch irgendwelche Sinneseindrücke wahrzunehmen.
    Nur ein einziger Gedanke formte sich noch in seinem Gehirn.
    Ostra!
    Mein Name ist Ostra!
    Ich bin Ostra!
    ***
    Professor Zamorra war mit dem Zug nach Marseille gefahren. Am Bahnhof hatte er ein Taxi bestiegen und sich sogleich zum Polizeipräsidium bringen lassen. Er wollte diese Angelegenheit hier so schnell wie möglich hinter sich bringen, um wirklich unverzüglich wieder nach Château Montagne zurückkehren zu können.
    Der Polizeipräfekt, ein großgewachsener, breitschultriger Mann namens Lepine, den er vor Jahren anlässlich eines Kongresses kennen gelernt hatte, erwartete ihn bereits. Mit sorgenvoller Miene begrüßte er Zamorra in seinem aufwändigen Arbeitszimmer, das eher einem Clubraum als einem Büro ähnlich sah.
    »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, Professor«, sagte er, »obwohl Sie sich nach der Lage der Dinge wohl umsonst bemüht haben.«
    »Das müssen Sie mir näher erklären, Monsieur Lepine.«
    Der Präfekt bot Zamorra eine Zigarre an, die dieser jedoch dankend ablehnte. Dann sagte er: »Henry Montpellier ist aus dem Untersuchungsgefängnis entflohen.«
    »Oh!«
    »Sein Verschwinden vollzog sich unter genauso mysteriösen Umständen wie die Mordtat. Tagelang war er ein ausgesprochener Mustergefangener. Selten hat es einen friedlicheren, ergebeneren Mörder gegeben. Dann kam der Ausbruch, ein Ausbruch, den man eigentlich gar nicht für
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