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006 - Der lebende Leichnam

006 - Der lebende Leichnam

Titel: 006 - Der lebende Leichnam
Autoren: Peter Randa
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gewachsen.
    Die Wissenschaftler behaupten, dass Radioaktivität die Menschen verändern kann, aber sprechen nur von den Auswirkungen, die sich erst im Laufe einiger Generationen bemerkbar machen. Außerdem rechnen sie vor allem mit der Möglichkeit monströser Missbildungen. Zu viele Finger, ein Bein weniger, ein Arm mehr, Schuppen am ganzen Körper oder nur ein Auge. Sie haben die Hypothese aufgestellt, dass sich eventuell auch neue Fähigkeiten entwickeln, jedoch nicht in einer so krassen Form, wie dies bei mir der Fall ist.
    Die Verwandlung hat sich bei mir im Lauf dieser achtzehnmonatigen Bewusstlosigkeit vollzogen. Mein normales Bewusstsein muss sehr bald meinen gequälten Körper verlassen haben.
    Ich habe maßlos gelitten, aber die Schmerzen haben sich nicht in meine Erinnerung eingegraben oder zumindest nicht in meine bewusste Erinnerung. Jetzt weiß ich auch, warum. Ich befand mich sozusagen außerhalb meiner selbst.
    Wenn ich mit Marlat offen darüber sprechen könnte und vor allem, wenn er mir Glauben schenken würde, fände er bestimmt eine wissenschaftliche Erklärung für meinen Fall. Aber ich muss mich mit Vermutungen zufrieden geben. Ich stelle eine Tatsache fest und muss sie wohl oder übel akzeptieren, selbst wenn es mir nicht gelingt, sie logisch zu begründen.
    Auf jeden Fall muss ich die Fähigkeiten, über die ich neuerdings verfüge, vor meiner Umgebung sorgfältig verbergen. Wäre ich ein gewöhnlicher Patient, wäre das völlig bedeutungslos. Aber die Justiz wird mich bestimmt für die Katastrophe im Flügel F verantwortlich machen.
    Dadurch bin ich gezwungen, äußerst vorsichtig zu sein.
     

     
    Ich entspanne mich, um in dieses andere Bewusstsein hinüberzugleiten. Es geht fast ohne mein Zutun, und ich stehe auf. Ich muss ganz genau feststellen, über welche praktischen Möglichkeiten ich in meinem zweiten Dasein verfüge.
    Ich weiß bereits, dass man nicht hört, wenn ich etwas sage. Man hört mich nicht, und ich bin unsichtbar, aber ich habe trotzdem das Gefühl, einen Körper zu besitzen. Das überrascht mich, und ich möchte dieses Phänomen genauer erforschen.
    Ich berühre das Bett und spüre deutlich das Leintuch unter meinen Fingern, bin jedoch nicht imstande, hindurchzugehen. Also bin ich nicht nur ein Geist. Ich bin nach wie vor ein Wesen mit einem Körper, und ich frage mich, ob die anderen ihn spüren würden, wenn sie ihn zufällig berührten.
    Das ist wichtig. Ich muss mit Mireille einen Versuch machen. Aber zuerst will ich etwas anderes ausprobieren. Auf dem Nachttisch steht ein Glas. Ich ergreife es – und kann es aufheben.
    Eine Täuschung? Der Beweis ist einfach. Ich entferne mich von meinem Bett und lasse das Glas fallen. Es zerbricht vor meinen Füßen. Mein Herz schlägt wie wild, und ich kehre in meinen Körper zurück.
    Ich brauche mich nur in meinem Bett umzudrehen. Sofort sehe ich die Glasscherben, die mitten im Zimmer auf dem Boden liegen. Fabelhaft. Ich habe keine Zeit, meine Gefühle zu analysieren.
    Die Tür zum Gang öffnet sich, und Mireille kommt herein. Sofort sieht sie das zerbrochene Glas und blickt mich überrascht an.
    »Was ist geschehen?«
    »Ich habe das Glas fallen lassen.«
    »Aber wie ist es dorthin gekommen, mitten ins Zimmer?«
    »Ich habe es aufzufangen versucht, als es mir entglitt, und dabei ist es mir aus der Hand gesprungen. Ich bin noch ziemlich ungeschickt.«
    Sie scheint sich zu wundern, glaubt mir aber meine Erklärung. Auf jeden Fall sagt sie nichts mehr.
    Nach einem Augenblick des Schweigens eröffnet sie mir:
    »Kommissar Dutoit und ein Untersuchungsrichter sind bei Dr. Marlat.«
    »Sie wollen mich wohl verhören?«
    »Ja.«
    »Ich habe nichts dagegen.«
    »Glauben Sie nicht, dass dieses Gespräch Sie zu sehr anstrengen wird?«
    »Ich fühle mich stark genug.«
    Sie holt einen Besen und kehrt die Glasscherben zusammen. Ich brauche nur mit ihren Gedanken Verbindung aufzunehmen, und schon Weiß ich genau, was in ihrem Kopf vorgeht. Sie wundert sich über meine Entscheidung. Sie dachte, ich hätte Angst davor, Kriminalbeamte zu empfangen.
    In gewissem Sinne stimmt das auch. Ich habe sogar große Angst davor. Vielmehr, ich hatte große Angst davor. Jetzt plötzlich gar nicht mehr. Im Gegenteil. Ich möchte so schnell wie möglich wissen, ob ich genauso leicht in den Gedanken des Untersuchungsrichters lesen kann, wie in denen Mireilles und Dr. Marlats.
    Ich habe einen entscheidenden Trumpf in der Hand. Vor allem, wenn es mir auch
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