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0051 - Das Schiff der toten Seelen

0051 - Das Schiff der toten Seelen

Titel: 0051 - Das Schiff der toten Seelen
Autoren: Susanne Wiemer
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entgegen, schlug den Mantel zurück und gürtete das Schwert. Seine Rechte hob sich und wies über das Schlachtfeld.
    »Ihr müßt eilen! Schnell schreiten die Seelen der Toten, und wenn ihr sie verliert, habt ihr alles verloren. In Merlins Land erwarte ich euch, auf Avalon…«
    Seine Gestalt verblaßte.
    Binnen Sekunden war er verschwunden, hatte sich zurückgezogen in seine körperlose Dimension, und vor den Augen der gebannten Beobachter hing nur noch ein silberner Schleier, der eins mit dem Mondlicht wurde.
    Die drei Menschen sahen sich an.
    Niemand sprach – aber alle dachten sie das gleiche. Sie würden mit den Toten ziehen. Aus der Realität dieser längst versunkenen Zeit würden sie den Weg ins Jenseits gehen und etwas erleben, das noch nie ein menschliches Auge gesehen hatte. Sie spürten Furcht, spürten das instinktive Zurückschauern vor dem Unbekannten – aber stärker noch als alles andere spürten sie den dunklen Zauber des Augenblicks und die Faszination angesichts der Möglichkeit, in eines der tiefsten Geheimnisse der Welt einzudringen.
    Auch sie schienen einem magischen Sog zu folgen, als sie sich in Bewegung setzten.
    Schweigend verließen sie den Schatten der Felsengruppe, gingen über den im Mondlicht schimmernden Hang und reihten sich in den geisterhaften Zug ein. Waffen und Rüstungen glänzten, Helme strahlten auf – doch die Lautlosigkeit, mit der die Ritter ausschritten, ließ keinen Zweifel daran, daß sie nicht mehr zu dieser Welt gehörten. Kein Klirren, kein knirschender Sand, keine Atemzüge – nur tiefe, unirdische Stille. Eine der gewappneten Gestalten blickte sich um. Dunkle Augen betrachtete die fremden Gäste, Lächeln glitt über ein ernstes, schönes Gesicht, aus dem die Spuren von Sonne und Staub, Entbehrungen und Kampf getilgt waren. Und bevor sich der Ritter wieder abwandte, seinem Ziel zu, neigte er flüchtig den Kopf, als wolle er die Unbekannten im Kreis der Toten willkommen heißen.
    Nie würden Nicole, Zamorra und Bill jenen nächtlichen Zug der gefallenen Kreuzfahrer vergessen.
    Durch die Wüste ging es.
    Den langen, endlosen Weg zurück, den die drei Freunde schon einmal gemacht hatten, um das Schlachtfeld zu erreichen.
    Aber auf geheimnisvolle Weise schienen Zeit und Erdenschwere außer Kraft gesetzt, die toten Seelen wanderten in ihre eigenen Welt dahin – und diese Welt umschloß auch die lebenden Begleiter, nahm sie in sich auf, trug sie vorwärts und entriß sie ebenfalls den Gesetzen von Zeit und Raum.
    Bill Fleming sah zur Uhr, als das Meer vor ihnen auftauchte. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen.
    »Halb eins«, flüsterte er. »Das kann es einfach nicht geben…«
    »Erinnerst du dich nicht an Albans Worte?« fragte Zamorra leise.
    »Sonnenwende, Nachtwende, Mittagswende – das sind die Augenblicke, wo alles geschehen kann…«
    »Nachtwende«, murmelte Bill. »Und jetzt?«
    Zamorra wies nach vorn.
    Klippen ragten dort ins Meer. Eine schwarze, niedrige Gesteinzunge wirkte wie ein natürlicher Anlegesteg – und dort lag, schaukelnd in der Dünung, das Schiff, auf das der gespenstische Zug zusteuerte.
    Eine Karavelle war es.
    So sah es jedenfalls aus – und Zamorra wagte nicht zu entscheiden, ob es sich überhaupt um ein reales Schiff handelte. Sein Blick glitt über den düsteren Rumpf, die schwarzen Masten, die aufgegeite Blinde und die schräge Rute des Lateinerbesans. Ein hölzerner Steg führte von der Landzunge an Deck. Langsam schritt der erste der Kreuzfahrer darauf zu, ohne Zögern betrat er die schwankende Brücke, und die anderen folgten ihm mit der gleichen traumwandlerischen, zielstrebigen Sicherheit.
    Mitten unter ihnen gingen Nicole, Zamorra und Bill. Umringt und geschützt von körperlosen Geisterwesen. Schnell und lautlos verteilten sich die Toten an Deck. Stumm nahmen sie ihre Plätze ein, überall schimmerten Brünnen und Helme und tauchten die düstere Karavelle in unwirkliches Licht. Aufrecht und stolz stieg der Führer der gefallenen Ritter zur Brücke empor – und im nächsten Moment hallte seine Stimme weit über das Wasser.
    »An die Brassen und Fallen! – Entert auf! – Die Segel hißt…«
    Leiser, wie fernes Echo kam die Bestätigung der Kommandos zurück. Lautlos bewegten sich die Gestalten, und lautlos entfalteten sich die Segel – schimmernd, als seien sie aus Mondlicht gesponnen.
    Wind kam auf, wehte stark und gleichmäßig vom Land. Mit einem klagenden Laut senkte sich der Steg und verschwand in den
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