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wurde, daß geradezu notwendigerweise eine intellektuelle Fronde nach dem Pionierbeispiel Horace Walpoles (»The Castle of Otranto«, 1765) ihren verklärenden Rückblick auf gotische Fialen und Gewölbe richtete.
    Die gothic novel, die manche Literaturwissenschaftler unter dem Begriff »Victorian Gothic« bis an die Schwelle des 20. Jh. hinaufdatieren, entfaltete ihre eigentliche Blüte zwischen Walpoles »Otranto« und Maturins »Melmoth« (1820). In dieser Zeitspanne übernahm das Genre übrigens bemerkenswert viele Motive aus dem folkloristischen Speicher der deutschen Romantik, deren Hinwendung zum Volksmärchen und zu legendären Traditionen durchaus als ein populistischer Versuch gewertet werden kann, dem kirchlichen Dogma eine ›andere Authentizität entgegenzusetzen. Zudem lieferte ein anhebender Orientalismus der englischen ›Gotik‹ attraktive Sujets – Beckfords »Vathek« (1787) ist das wohl prominenteste Beispiel dafür.
    Es macht die nachhaltige Faszination der gothic novel aus, daß sie die Zeitläufe mit sich selbst konfrontiert: Aufklärung und Obskurantismus, Plädoyer und Gegenplädoyer haben zwei gemeinsame Buchdeckel. Da entfaltet Frau Radcliffe auf Hunderten von Seiten ein Pandämonium scheinbar nur übersinnlich erklärlicher Ereignisse – und müht sich dann in der Raffung eines Schlußkapitels, den effektvoll aufgebauten irrationalen Konsens nach dem gesellschaftlichen Aufklärungsgebot wieder zu entkräften. Man spricht vom Prinzip des »erklärten Übernatürlichen«. – Ähnlich übrigens der deutsche Geheimbundroman, als dessen literarische Marksteine Schillers Fragment gebliebener »Geisterseher« (1788) und Grosses vierbändiger »Genius« (1791/94) erscheinen. Seltsam, daß trotz vieler gelehrter Studien die Grundfigur der beiden eng verbundenen Romantypen bislang nicht klar definiert wurde: Es ist die Intrige.
     
    Von diesem kurzen Abriß zur Geschichte der ghost story kann keine enzyklopädische Darstellung erwartet werden, in der Name um Name fällt; vielmehr mögen Hinweise auf exemplarische Werke die Argumentationslinie verdeutlichen.
    Ein solch beispielhaftes Œuvre hinterließ der protestantische Ire Joseph Thomas Sheridan Le Fanu (1814–1873), der »Meister des Schreckens und des Mysteriums«, wie S. M. Ellis ihn 1916 genannt hat. Le Fanu ist eine Gestalt des weltanschaulichen und literarischen Übergangs. Neben christlich vibrierenden Erzählungen, etwa »The Mysterious Lodger« (1850), stehen Geschichten, in denen er sich der irischen Folklore bedient (»The White Cat of Drumgunniol«, 1870), aber auch – und dies macht sein vorfühlendes Genie aus – erste gänzlich agnostische Erzählungen (»Dickon the Devil«, 1872) und das Meisterwerk »Green Tea« (1869), in dem der Übergang von der ›klassischen‹ zur psychologischen ghost story gelingt.
    Montague Rhodes James (1862–1936), der nächste Großmeister der englischen ghost story, nimmt den Agnostizismus des von ihm bewunderten Iren in verdichteter Form auf. Er mutmaßt nicht, vergißt Gott und die Kirche, verzichtet auf Erklärungen, verharrt in tiefem Skeptizismus gegenüber allem Spiritismus seiner diesenthalb erhitzten Zeitgenossen. Zweifellos hätte M. R. James an der klassischen Sentenz der Madame Deffand seine Freude gehabt: »Glauben Sie an Gespenster?« – »Nein, aber ich habe Angst vor ihnen.«
    Denn Angst und Schrecken flößen die physisch gefaßten übernatürlichen Erscheinungen des Dr. James, seines Zeichens Provost von Eton, dem Leser durchweg ein; immerhin sind sie allesamt bösartige Wesen. James’ spätviktorianische Ehrenmänner (Frauen existieren für den Gelehrten als handelnde Personen nicht) provozieren zwar gelegentlich durch Neugier oder sonstige Vorwitzigkeit ihre übernatürliche Verfolgung, erscheinen gleichwohl als ganz unschuldig im Vergleich zum Strafmaß ihrer Heimsuchung.
    Damit ist freilich die klassische, die moralische Geistergeschichte mit ihrer Dialektik von Fehlverhalten und übernatürlicher Sühne überholt. Jenseits viktorianischer Betulichkeit verkündet M. R. James: Auch wer auf die britische Monarchie schwört, Golf spielt und auf Empfängen eine gute Figur macht, ist vor Bedrohung nicht gefeit.
    Ja, man ist nicht mehr sicher in der literarischen Welt des M. R. James. Durchaus harmlose Seelen erfahren in ihr den »Chok« (Walter Benjamin), weil sie nicht begriffen haben, daß die moralische Begründung ihrer gesellschaftlichen Existenz nur noch leicht
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