Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Zwischenspiel: Roman (German Edition)

Titel: Zwischenspiel: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Maron
Vom Netzwerk:
Gesicht, das, wie bei den meisten Säufern, etwas Affenartiges hatte. Ich hatte mich schon früher gefragt, ob unsere zivilisatorische Haut wirklich so dünn war, dass man sie sich einfach wegsaufen konnte und gleich darunter der Affe zum Vorschein kam. Diese hellen blauen Augen mit dem herausfordernden, fast dreisten Blick erinnerten mich an etwas oder jemanden, und während ich in meinem Gedächtnis nach der Deckung für mein Gefühl suchte, fiel mir auf, dass ich den Mann nicht verpixelt, sondern so deutlich wie Olga sah, und fragte mich, was das zu bedeuten hatte.
    Der Mann löste mit einem schmatzenden Geräusch den Hals der Bierflasche von seinen Lippen, sah mich dabei unverwandt an, schüttelte sich und sagte: So viel Abscheu in so schönen Augen, das kann ich nicht ertragen. Sie dürfen gehen, Gnädigste.
    Er artikulierte scharf und dehnte die Worte, als wäre jedes von ihnen kostbar. Ich kannte diesen Ton, er passte zu den Augen.
    Bruno?
    Er drehte sich mit dem ganzen Körper zu mir, hielt, um seine Ratlosigkeit zu demonstrieren, sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, fuhr mit seinen Augen immer wieder über mein Gesicht.
    Und Sie, wer sind Sie?
    Ruth, sagte ich, Hendriks Frau. Damals. Bist du wirklich Bruno? Ich dachte, du wärst tot.
    Natürlich bin ich tot, sagte der Mann, säße ich sonst in diesem ungeselligen Park statt in einer gehörigen Destille unter ehrlichen Trinkern?
    Kein Zweifel, der Mann war Bruno. Aber warum saß Bruno, wenn er doch tot war, neben mir auf der Bank wie gerade noch Olga, die auch tot war. Ich glaubte weder an Gott noch an Globuli, ließ mir nicht aus der Hand lesen, auch keine Horoskope erstellen, und plötzlich erschienen mir Tote, und ich sprach zu ihnen wie zu Lebenden. Später habe ich manchmal gedacht, es hätte alles mit der kleinen Wolke angefangen, deren eigenwilligen Rückflug über den grellen Himmel ich so lange verfolgt hatte, bis ich nicht mehr klar sehen konnte. Ihr geheimnisvoller Richtungswechsel hatte mich in ihren Bann gezogen, mich selbst auf Abwege und in diesen Park geführt. Aber das dachte ich erst später. An jenem Tag im Park sprengte nichts von dem, was ich noch erleben sollte, meine Vorstellung von Normalität, als wäre ich für einen Tag selbst ein Teil dessen gewesen, woran ich nicht glaubte.
    Aus Bruno quoll ein dunkles Geräusch wie das Grollen in einem Hohlkörper, was aber ein Lachen bedeuten sollte. Hendrik, sagte Bruno fast zärtlich. Dann noch einmal heftig: Hendrik, der Verräter. Abgehauen, als er den Erfolg witterte. Der große Exeget der Freundschaft, die ihm dann das Bier nicht wert war, mit dem er darauf angestoßen hat. »Mein Freund, ich brauche dich wie eine Höhe, in der man anders atmet.« Und als er sich die Lungen vollgepumpt hatte und meinen Kopf geplündert, hat er sich davongemacht und auf die Freundschaft geschissen.
    Er nahm geräuschvoll einen Schluck aus der Flasche, wandte sich mir zu, wobei er den Kopf leicht nach hinten lehnte, als wolle er mich begutachten wie ein Gemälde. Nehmen Sie meine Rede nicht so ernst, Gnädigste, sagte er, das ist nur der Phantomschmerz wie auch mein Bier nur ein Phantombier ist. Alles reine Simulation.
    Es wirkt so echt, sagte ich.
    Echt? Meinen Sie damit wie im Leben, echt wie das Leben, was hieße, nur das Leben sei echt? Mit dem Tod verhält es sich wie mit der Kunst. Der Ausdruck des Schmerzes, auf Leinwand gebannt, überdauert den Lebensmoment, dem er entliehen war, um eine Ewigkeit. Auch die Ursache des Schmerzes interessiert nicht mehr, nur der ewige, alle je gefühlten Schmerzen vereinende Schmerz auf dem Bild bleibt. Denken Sie an Munchs »Schrei«. Müssen wir wissen, welches Entsetzen die Person, von der man nicht einmal sagen kann, ob sie Mann oder Frau ist, Mund und Augen so aufreißen lässt? Jeder Sterbliche kennt dieses Entsetzen in sich, und jedermanns Entsetzen, auch das der Toten und noch Ungeborenen, ist für immer bewahrt auf diesem Bild, echter als das beliebige Entsetzen irgendeines Lebendigen. Der Tod ist wie die Kunst. Dem verkommensten, verfehltesten Leben folgt er als erhabener Schluss. Der Tod adelt Betrüger, Mörder, Säufer und alle anderen Tunichtgute, er nimmt sie gnädig zurück als misslungene Schöpfungsversuche der Natur in das große Recyclingdepot, wo Gut und Böse einträchtig vermodern. Glauben Sie mir, Gnädigste, nichts ist echter als der Tod. Das Leben ist reiner Zufall. Allein unsere Zeugung ist ein Witz. Man stelle sich vor: ein Mann und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher