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Zwergensturm

Zwergensturm

Titel: Zwergensturm
Autoren: Oliver Mueller-Hammerschmidt
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Prophezeiungen von sich gab. Selbst wenn er sprach, nahm er nie seine Kapuze aus dem Gesicht, das noch nie jemand zu sehen bekommen hatte; er hatte die Kapuze seines schwarzen Mantels stets so tief herabgezogen, dass man nur in ein schwarzes Loch blickte, wenn man versuchte, sein Gesicht zu erspähen. Nicht einmal die Augen waren zu erkennen.
    Der Prophet, wie ihn alle nannten, sprach auch mit niemandem, außer wenn er seine Tasse Tee bestellte. Zu wechselnden Zeiten erhob er sich manchmal und begann, eine Rede zu halten. Er sprach üblicherweise von dunklen Zeiten, dem Untergang und so weiter. Die anderen Gäste pflegten ihm zuzuhören, doch mancher fühlte sich auch dazu berufen, sich über den Propheten lustig zu machen. „Der Untergang naht“, riefen sie dann. „Schon wieder!“ Andere diskutierten dann an ihren Tischen über die „Prophezeiung“. Von Zeit zu Zeit fragte sich Olly, ob der Prophet ein Verrückter war.
    Gerade bückte Olly sich, als er hörte, wie ein Stuhl verschoben wurde. Er blickte auf und sah, dass der Prophet sich erhob. Es war relativ früh für seine „Rede“, aber so hatte Olly wenigstens Zeit, sich vor dem großen Ansturm noch etwas zu entspannen und ihm zuzuhören.
    Der Prophet sprach seine Worte langsam und mit dunkler Stimme:

    „Dunkelheit, kein Licht, nirgends.
    Dunkelheit, keine Hoffnung, nirgendwo.
    Dunkel die Sinne, schlaflos die Träume und traumlos der Schlaf,
    folgen wir dem Untergang, mutlos und brav,
    der Sturm stürmt die Haut,
    der Seelen beraubt,
    kein Widerstand, kein Licht.
    Das Glimmen ist kein Licht, das Lachen Hoffnung nicht,
    der Tod langweilt sich, ist er doch belanglos,
    wenn das Leben schon verrottet ist.
    Wir hassen die, die es nicht waren, wir fürchten den, der es nie wird, wir sind tot und leere Hüllen,
    ein Volk, das keine Liebe birgt.
    Die Leidenschaft erloschen, die Freude bloße Hülle, wandelnde Tote, ohne Geistesfülle.
    Wir haben mal gelebt, haben mal gefühlt, haben mal gelitten, haben mal gelacht, haben mal gestritten, haben nachgedacht.
    Nichts ist mehr davon, nichts ist mehr da;
    Wir wandern lebend tot, Jahr für Jahr.
    Wir wachen niemals auf, ohne je zu schlafen;
    kein Schiff liegt mehr vor Anker, in des Lebens Hafen.
    Dunkelheit, kein Licht, nirgends.
    Dunkelheit, keine Hoffnung, nirgendwo.
    Keine Hoffnung mehr. Kein Licht. Nur noch Dunkelheit. “

    Der Prophet machte sich auf zu gehen und zog die Kapuze noch tiefer ins Gesicht. In dem Moment, als er losging, entzündete sich wie von Geisterhand auf dem Tisch in der allerhintersten, dunkelsten Ecke des Gastraumes, wo kaum einmal jemand saß, eine Kerze, brannte viel zu hell und erleuchtete die Dunkelheit.
    Der Prophet zuckte zusammen.

Grünleben, Herrscherpalast
    Gram war sauer. Sie versteht nichts, aber auch gar nichts!! Im Gegenteil, seine Schwester zeigte gar Verständnis für die Völker im Besetzten Land! Wie kann man nur!! Diese nichtsnutzigen, geistlosen Sklaven muss man ausnehmen, ausplündern! Er war überzeugt, dass die Körper der Einwohner dafür geschaffen waren, ihnen, den Dunkelelfen, zu dienen und das Leben zu ermöglichen, das ihnen gebührte: ein Leben in Reichtum, umgeben von Schönheit!
    Ein Diener klopfte an Grams Gemächern an. Gram rief ungehalten „Ja?“, und der Wächter öffnete die schweren Flügeltüren. Er schaute sich scheu um und erblickte Gram, der in einer Ecke vor einem Spiegelschrank stand und wütend dreinblickte.
    „Die Königin schickt mich, sie bittet um Eure Anwesenheit.“ „Gut, hau ab“, erwiderte Gram.
    Er blickte nochmals in den Spiegel. Seine Falten rund um die Augen herum waren sichtbarer geworden. Das ärgerte ihn so sehr, dass er sich schon fast Sorgen machte, dass das wiederum zu noch tieferen Falten führen könnte. „Verdammte Menschen“, sagte er zu sich selbst. „Meine verdammte Schwester“, fügte er in Gedanken hinzu.
    Er machte sich auf den Weg. Natürlich fragte er sich, was Maui nun schon wieder von ihm wollte. Ihr letzter Streit war gerade mal zwei Stunden her. Gram eilte durch die lang gezogenen Gänge des Palastes, über den weichen, rötlich gemusterten Teppich und vorbei an den Bildergalerien, die alle Gänge schmückten. Sie zeigten ihre Ahnen, aber auch andere Dunkelelfen, die es durch Kunst, Handel oder Grausamkeiten in Kriegen zu Ruhm gebracht hatten. Über der nächsten Zwischentür hing ein Bild, das größer war als alle anderen in diesem Gang. Es zeigte Warlas, ihren Ahnen. Er war der, der aus dem Volk der
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