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Zwergensturm

Zwergensturm

Titel: Zwergensturm
Autoren: Oliver Mueller-Hammerschmidt
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sich nicht viel im Land. Jeder, der dem Kindesalter entwachsen war, bekam von den Herrschern eine Aufgabe zugewiesen. Haggy war einem Stall zugeteilt worden. Er arbeitete dort seit nunmehr zwanzig Jahren als Tierpfleger. Er beschwerte sich nicht, er liebte „seine“ Ponys. Immer wieder staunte er darüber, welch eigene Persönlichkeit die Tiere entfalteten. Aufgrund der langjährigen Tätigkeit konnte er die Tiere mittlerweile identifizieren, ohne sie zu sehen, nur indem er ihr Fell berührte.
    Im Stall hatte er auch Wily getroffen, kennen- und schätzen gelernt. Wily war lange vor Haggy dort gewesen. Kauzig war er schon immer und betrübt über die Besatzung. Doch je älter er wurde und je länger die Besatzung andauerte, desto zorniger wurde er. Wily machte keinen Hehl aus seiner Ablehnung der Dunkelelfen. Sie hatten ihn aber auch nie zur Rechenschaft gezogen. Im Grunde ließen sich die Dunkelelfen kaum blicken. Einmal im Monat kassierten sie auf dem Marktplatz ihren Zehnt, der schon seit etlichen Jahren kein eigentlicher Zehnt mehr war, sondern drei von zehn Teilen eines jeden hergestellten Gutes betrug. Das war viel, vor allem für die vielen kleinen Bauern. Aber es war nichts, das man nicht hätte aufbringen können. In schlechten Jahren unterstützte man sich eben gegenseitig, kaum einer musste hungern. Nach allem, was man über die Zeit vor der Besatzung und von den Zuständen auf anderen Kontinenten so hörte, konnte man eigentlich zufrieden sein.
    „Lass den Zorn dich nicht verzehren, alter Freund.“ Haggy nahm Wily in den Arm. Er musste los, es würde bald dunkel werden. Wily lächelte sanft zurück. „Haggy, du Sonnenschein in dunklen Tagen, wie trist wäre das Leben ohne dich gewesen.“ Haggy fühlte sich geschmeichelt. Das Urteil des Alten bedeutete ihm viel. Haggy verabschiedete sich auch von Dieba, die ihm freundlich hinterherwinkte. Dann verließ er Wilys Haus und machte sich auf den Heimweg.
    Wily ging zu seinem Lieblingsplatz ans Fenster und blickte hinaus. Dieba stand wieder in der Küche. Wily blickte nach rechts und sah, wie Haggy sich entfernte. Er dachte viel an Haggy. Und an dessen Freunde. Was für gute Kerle und Mädels das doch waren.
    Haggy, mit dem er so lange zusammengearbeitet hatte. Er war schon immer mit seiner Familie gut befreundet gewesen. Eines Tages hatte er sie besucht, als Haggy noch so klein war, dass er kaum laufen konnte. Wily hatte damals das Lachen von Haggys Vater schon von Weitem gehört, gepaart mit dem lauten Knallen von Gewehrschüssen. Das Lachen war allerdings lauter als die Schüsse gewesen. Schießübungen! Wily betrat damals den Garten der Zwergenfamilie und sah, wie Haggy, sein Vater sowie ein befreundeter Gnom und dessen Tochter hinter einem großen Tisch standen. Haggy stand mit seinen kleinen Zwergenkindbeinen breitbeinig am Tisch, die Flinte in der Hand, die Ellbogen aufgestützt. Weil er noch zu klein war, stand er dabei auf einem Holzkübel. Er zielte auf Holzdosen, die in rund fünfzig Schritten Entfernung auf einem breiten Stück Holz in Reih und Glied standen. Noch während er sich zu der Versammlung gesellte, spähte Wily in Haggys Gesicht und erkannte, wie konzentriert das Kind war. Beide Augen waren weit geöffnet. Das eine blickte über Kimme und Korn, das andere ruhig geradeaus, so als ob es gleichzeitig die Umgebung überwachte. Und dann passierte das, was so oder ähnlich immer wieder passierte. Haggy drückte ab, der Knall der Waffe erschütterte die Umgebung. Durch die Wucht des Rückstoßes wurde Haggy von den Beinen gerissen und fiel rücklings in den Schnee. Der Kübel, auf dem er gerade noch stand, flog mit in die Luft, überschlug sich zweimal und landete ausgerechnet auf Haggys Kopf. Die Gewehrkugel jedoch flog schnurstracks geradeaus auf die mittlere Dose zu und durchschlug sie zentral. Haggys Vater jubelte laut und lachte so herzhaft, dass alle anderen mit einfielen. Auch Haggy gluckste unter dem Kübel, von dem ihn sein Vater befreite.
    Es war bemerkenswert, welche Schießleistungen das Kind an den Tag legte. Genauso bemerkenswert war es, wie sich sein Vater jedes Mal von Neuem so ausgiebig darüber freute! Haggy musste mittlerweile Hunderte von Dosen zerschossen haben. Seine Mutter hatte ihre Versuche längst aufgegeben, den Vater zwecks Schonung der Holzdosenreserven von weiteren Schießübungen abzuhalten. Es brachte nichts. Wily grinste immer noch. Haggys Vater hatte mit seinen Jagdkünsten zeitweise die halbe Stadt ernährt.
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