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Zwei Geschichten von der See

Zwei Geschichten von der See

Titel: Zwei Geschichten von der See
Autoren: Jorge Amado
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noch an die Kindheit zu erinnern, an die Jugend, die Zeit der Verlobung, an die Hochzeit und die zahme Gestalt des Joaquim Soares da Cunha, halb verborgen in einem Segeltuchsessel, wie er bei der Zeitungslektüre zusammenzuckte, sobald die Stimme von Otacília nach ihm rief, in tadelndem Tonfall:
    »Quincas!«
    So schätzte, so spürte sie Zärtlichkeit für ihn, diesen Vater vermisste sie, mit einer kleinen zusätzlichen Anstrengung hätte sie sogar Rührung empfinden können, hätte sich wie eine Waise gefühlt, unglücklich und verlassen.
    Die Hitze im Zimmer nahm zu. Seit Vanda die Fensterläden geschlossen hatte, fand die Meeresbrise keinen Einlass. Das wollte Vanda auch nicht: Meer, Hafen und Brise, die Wege, die den Hang hinaufführten, die Geräusche von der Straße, all das war Teil jenes vergangenen Daseins in ehrlosem Wahn. Hier sollten nur sie sein, der tote Vater, der schmerzlich vermisste Joaquim Soares da Cunha und die kostbarsten Erinnerungen, die er hinterlassen hatte. Tief vom Grund ihres Gedächtnisses barg sie vergessene Szenen. Der Vater, wie er sie zu einem Pferdezirkus im Ribeira-Viertel mitnimmt, aus Anlass eines Festes an der Bonfim-Kirche. Vielleicht hatte sie ihn nie so fröhlich gesehen, diesen Riesen von einem Mann, der breitbeinig auf einem Kinderpony saß und dabei schallend lachte, er, dem doch so selten auch nur ein Lächeln über die Lippen kam. Auch die Feier fiel ihr ein, die Freunde und Kollegen zu Ehren Joaquims veranstaltet hatten, als er bei der Zolleinnahmestelle eine Beförderung erhielt. Das Haus voller Leute. Vanda war schon eine junge Frau, ging neuerdings mit einem Verehrer aus. An diesem Tag war es Otacília, die vor Genugtuung schier platzte, inmitten einer Gruppe, die sich im Wohnzimmer versammelt hatte, unter feierlichen Reden, es gab Bier und als Geschenk für den Beamten einen Füllfederhalter. Es war, als wäre sie selbst die Geehrte. Joaquim hörte sich die Reden an, schüttelte die Hände, nahm den Federhalter an, ohne irgendeine Begeisterung zu zeigen. Als wäre ihm das Ganze lästig, und er hätte nur nicht den Mut, es zu sagen.
    Sie erinnerte sich auch an den Gesichtsausdruck ihres Vaters, als sie ihm den baldigen Besuch Leonardos ankündigte, der sich endlich dazu entschlossen hatte, um ihre Hand anzuhalten. Joaquim schüttelte den Kopf und sagte leise:
    »Der Ärmste …«
    Vanda ließ auf ihren Verlobten nichts kommen:
    »Wieso der Ärmste? Er ist aus guter Familie, hat eine gute Stelle, er trinkt nicht und geht nicht in Kneipen oder zwielichtige Etablissements …«
    »Ich weiß … ich weiß … Ich dachte an etwas anderes.«
    Es war merkwürdig: Sie erinnerte sich an sehr wenige Einzelheiten rund um ihren Vater. Als hätte er am heimischen Leben nicht aktiv teilgenommen. Sie hätte Stunden damit zubringen können, an Otacília zurückzudenken, an Szenen, Aussprüche, Begebenheiten, bei denen die Mutter zugegen gewesen war. In Wahrheit hatte Joaquim in ihrer beider Leben erst angefangen zu zählen, als er an jenem absurden Tag zunächst Leonardo als »Bauerntölpel« bezeichnet und dann sie und Otacília angesehen und ihnen ins Gesicht geworfen hatte:
    »Ihr Giftschlangen!«
    Und dann war er in aller Seelenruhe, als wäre es das Geringfügigste, Banalste von der Welt, aus dem Haus gegangen und nicht mehr wiedergekehrt.
    Daran jedoch wollte Vanda nicht denken. Erneut ging sie in die Kindheit zurück, dort stand Joaquim ihr noch am deutlichsten vor Augen. Zum Beispiel damals, als Vanda, ein fünfjähriges Mädchen mit strubbeligen Haaren, nahe am Wasser gebaut, besorgniserregend hohes Fieber bekommen hatte. Joaquim hatte ihr Zimmer für keinen Moment verlassen, er saß neben der kleinen Patientin am Bett, hielt ihr die Hand, verabreichte ihr die Arznei. Er war ein guter Vater und guter Ehemann. Mit dieser letzten Erinnerung fühlte sich Vanda ausreichend gerührt und in der Lage – hätten noch andere mit ihr Totenwache gehalten –, ein wenig zu weinen, wie es Pflicht einer guten Tochter ist.
    Mit melancholischer Miene betrachtete sie den Leichnam. Die glänzenden Schuhe, auf denen das Licht der Kerzen funkelte, die messerscharfe Bügelfalte, das gutsitzende schwarze Sakko, die frommen, über der Brust verschränkten Hände. Sie ließ die Augen auf dem glattrasierten Gesicht ruhen. Und fuhr zusammen, zum ersten Mal.
    Denn sie sah das Grinsen. Ein zynisches, unmoralisches Grinsen, das eines Menschen, der sich prächtig amüsierte. Das Grinsen hatte
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