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Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)

Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)

Titel: Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
Autoren: Hansi Hartwig
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wann sie ihre Verwandten zuletzt gesehen hatte. Es mussten inzwischen Jahre vergangen sein, seit sie sich völlig zerstritten nach einem sogenannten Familientreffen getrennt hatten. Allerdings hatte bereits lange zuvor der Putz an dem Kartenhaus „Familie“ zu bröckeln begonnen. Doch unbeirrt mühten sich ihre Eltern in verzweifelter Sinnlosigkeit, ihre Angehörigen zusammenzuhalten, ohne sich einzugestehen, dass das, was sie in der Öffentlichkeit beharrlich Familie nannten, höchstens blätternde Fassade war.
    Und sie, Susann Seiler, hatte einen der ersten Steine geworfen. Gegen den Widerstand ihrer Eltern hatte sie ein Studium fernab der Heimatstadt begonnen, um der erdrückenden Obhut der Familie zu entfliehen. Gehorsam gehörte nicht zu ihren Stärken. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, aber es waren bittere Erinnerungen, die selbst jetzt noch wehtaten.
    „ Und Sie wünschen bitte?“ Die barsche Stimme der Verkäuferin schreckte sie aus ihren Überlegungen. Der Tonfall der drallen Blonden legte die Vermutung nahe, dass sie ihre Frage zum wiederholten Male stellte.
    „ Oh, entschuldigen Sie, hab wohl noch geschlafen.“ Verlegen schob sie ihre Brille auf dem Nasenrücken nach oben. „Geben Sie mir bitte von den Birnen und Orangen jeweils eine große Tüte voll.“ Sie streckte die Arme aus, verschränkte die Finger ineinander und formte vor ihrem Bauch einen gewaltigen Kreis. „So viel etwa. Sollte zwei leere Studentenwänste über ein langes Wochenende retten. Ein Kilo vielleicht?“
    Die Miene der Verkäuferin hellte sich auf. „Also wirklich, da passen locker mindestens vier rein.“ Als sie in Susanns entsetztes Gesicht blickte, lachte sie schallend. „Vier Kilo Obst, meinte ich natürlich.“
    „Obst. Natürlich.“ Susann atmete mit gespielter Erleichterung die angehaltene Luft aus, wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn.
    A ngetan von der Herzlichkeit der beiden kleinen Geschwister und dem Scherz der Verkäuferin bezahlte sie und ging beschwingt die Fußgängerzone zurück. Sie hatte den richtigen Tag für ihr Vorhaben ausgesucht. Bereits am frühen Vormittag war es angenehm warm. Keine einzige Wolke ließ sich am azurblauen Himmel blicken. Alles strahlte eine friedliche Ruhe aus. Sie holte tief Luft und packte die beiden Papiertüten in ihrem Arm fester. Endlich Sommer!
    Sofort nach dem Frühstück werde ich loslegen, schwor sie sich, sonst bekomme ich den Auftrag nie fertig. Muss Cat eben alleine ihre Übersetzung beenden. Hoffentlich hat sie sich in der Zwischenzeit aus den Federn gequält und wenigstens Kaffee gekocht. War aber auch verdammt spät gestern Abend. Heiliger Bimbam, haben wir gebechert! Als würde es nie wieder was geben. Jetzt brauche ich bloß diese dumme Geschichte mit …
    Sie zuckte zusammen, als vor ihr plötzlich wie von Geisterhand bewegt der blaue Ball auf und nieder sprang. Aus den Augenwinkeln nahm sie das weiße Sommerkleidchen wahr und dahinter ein schwarzes Auto mit entsetzlich quietschenden Reifen. Sie registrierte nicht mehr, was um sie herum passierte, sondern rannte los, ohne nach rechts oder links zu sehen.

1. K apitel
     
    Ein heiserer Schrei weckte sie. Gleich darauf vernahm sie ein dumpfes Dröhnen, das sie an eine Trommel erinnerte und alle anderen Geräusche ringsum übertönte. Ihr Atem ging schwer und unregelmäßig. Sie öffnete den Mund, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sie mühte sich, die Augen zu öffnen, und auch das gelang ihr nicht. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer schweißnassen Stirn, angenehm kühle Finger, die weiter nach unten über ihre Wange glitten, zögernd, als warteten sie auf ihre Erlaubnis.
    Sie wollte etwas sagen, konnte sich allerdings nicht erinnern, zu wem diese Hand gehörte. Mit Sicherheit kannte sie zu viele. Was sie einen Moment lang wirklich überraschte, war die Tatsache, dass sie die Berührung genoss und es ihr keine Angst machte, sie niemandem zuordnen zu können. Es fühlte sich richtig an, dass diese Hand da lag, als sei es schon immer so gewesen. Eine dunkle, warme Stimme drang durch die störende Wand aus Watte an ihr Ohr.
    „ Schsch, ganz still, Mädchen, bleib still liegen.“
    Wieder versuchte sie vergeblich, sich bemerkbar zu machen.
    „Ah, du magst es also nicht, wenn man dich ein Mädchen nennt? Dann vielleicht ‚junge Dame‘?“ Das Lächeln war seiner Stimme anzuhören. „Aber nein, das möchtest du erst recht nicht hören.“
    Sie ist so jung. So unschuldig. Und ich sollte nicht
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