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Zu keinem ein Wort

Titel: Zu keinem ein Wort
Autoren: Lutz van Dijk
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Randalierer bei uns im Heim uns vor allem eines klar gemacht: Dass es nun wirklich höchste Zeit war, Deutschland zu verlassen.

    Mein Gefühl der grenzenlosen Sicherheit in Onkel Isidors Nähe veränderte sich von diesem Tag an. Ich wusste, dass er für uns Kinder alles tun würde. Aber dass sich dieser große starke Mann vor den Randalierern unter dem Tisch hatte verstecken müssen, hatte mich tief erschüttert. Ich begriff mit einem Mal, dass es Situationen gab, in denen wir Kinder nicht mehr auf den Schutz der Erwachsenen rechnen konnten, sondern bereit sein mussten, uns selbst zu helfen. Aber ich ahnte nicht, dass ich genau dies sehr bald selbst würde tun müssen.

ABSCHIED
    Die folgenden Tage war Onkel Isidor kaum noch ansprechbar. Wann immer wir an seiner und Tante Rosas Wohnung im zweiten Stock vorbeikamen, hörten wir ihn am Telefon aufgeregt in den verschiedensten Sprachen reden. Schauten wir zu ihm hinein, schickte er uns sofort wieder raus und telefonierte weiter. Manchmal konnten wir Brocken seiner Unterhaltungen mithören:
    Â»Gut, mache ich... wie viele Kinder können Sie übernehmen?... Aber warum nur zehn Mädchen? Die Jungen sind genauso in Gefahr!... Nein, wir haben immer noch keine Zertifikate für Palästina... könnten Sie nicht noch mal für uns nach London telegraphieren?... Kein Problem, alle Kinder schicken wir mit einem Satz vollständiger Kleidung sowie Handtüchern und Bettzeug...« 5
    Eines Tages teilte Tante Ella uns mit, dass wir unsere besten Kleider anziehen und alle die Haare ordentlich kämmen sollten. »Der Fotograf kommt! Ihr braucht alle Fotos für die Auswanderung!«
    Jutta bürstete ihre Haare erst zu einem Linksscheitel und flocht sie dann zu zwei langen Zöpfen. Ich war die ganze Zeit schrecklich nervös. Während ich mein
dunkles Schabbeskleid mit dem schlichten weißen Kragen anzog, dachte ich an die besondere Kette, die Tante Ella jeder von uns einmal von einer Reise aus Jerusalem mitgebracht hatte und die das Wertvollste war, was ich besaß: eine fein gearbeitete, silberne Kette mit einem dreieckigen, ziselierten Anhänger. Die legte ich jetzt um und hoffte, dass sie mir Glück bringen würde.

    Jutta (10) und Cilly (13) im Jahr 1938, noch in Frankfurt.
    Jutta war völlig unbeschwert, als der Fotograf kam. Mit ihren gleichaltrigen Freundinnen war sie nur am Kichern und konnte, auch als der Fotograf - ein geduldiger älterer Herr - auf den Auslöser drückte, kaum das Lachen zurückhalten. Zu mir sagte er dagegen: »Kind, schau nicht so ernst! Bald geht’s doch raus aus Deutschland,
was?« Da versuchte ich ein Lächeln, aber richtig gelungen ist es mir nicht. Meine Silberkette trug ich dabei unter dem Kleid.
    Â 
    Etwa eine Woche später verbreitete sich das Gerücht, dass als Erstes eine Gruppe von uns nach Holland gehen könne. Angeblich hatte die niederländische Königin Wilhelmina dreihundert besonders gefährdeten jüdischen Kindern aus Deutschland die Einreise in ihr Land gestattet. Aus unserem Heim sollten auch welche mitfahren dürfen, aber wie viele und wann wusste keiner. Ich gab erst nicht so viel auf das Gerücht, denn andauernd gab es neue Hoffnungen, die sich aber meist schnell wieder zerschlugen. Einmal sah ich Mutter eindringlich auf Onkel Isidor einreden, kümmerte mich aber nicht weiter darum. Zunächst beschäftigte mich viel mehr, dass immer neue Kinder bei uns im Heim aufgenommen wurden. Einmal kam ein ganzes Jungen-Waisenhaus geschlossen zu uns. Die Jungen waren von den Nazis aus ihrem Heim verjagt worden. Die Trennung zwischen Jungen und Mädchen konnte jetzt wegen der Raumnot nicht mehr so rigide beachtet werden. So aßen wir nun in einem Speisesaal mit den Jungen zusammen. Nicht wie früher bei den gelegentlichen Ausflügen, sondern auch im täglichen Umgang verbrachten wir jetzt viel mehr Zeit mit den Jungen gemeinsam. Ich fand das gut. Einige, vor allem die Schüchternen unter ihnen, mochte ich auf Anhieb. Mutter gefiel das gar nicht.
    Und dann wurden wir eines Abends plötzlich alle nach oben in den großen Saal gerufen. Es war eine beinah
feierliche Stimmung, als Onkel Isidor sich zweimal räusperte und dann ernst verkündete: »In einer Woche wird eine Gruppe von vierundzwanzig Kindern nach Holland reisen dürfen. Es sind...« Und dann las er in alphabetischer Reihenfolge die Namen vor.
    Erst kam
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