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Zu Hause in Almanya

Zu Hause in Almanya

Titel: Zu Hause in Almanya
Autoren: Aysegül Acevit
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wie es einem geht und was einen derzeit bewegt.
    Es gehört zur traditionellen Höflichkeit, dass die Jüngeren der Runde die Älteren auf besondere Art begrüßen, nämlich mit einem Kuss auf den Handrücken und folgender Berührung mit der Stirn. Das geht ruckzuck und ist eine nette Geste des Respekts. Kinder und Jugendliche bekommen von den so geehrten Älteren als Dankeschön oft Süßigkeiten oder eine kleine Zugabe zum Taschengeld. So polieren sie damit mindestens zweimal im Jahr, nämlich zum Ramadan und zum Opferfest, ihre Kassen auf. Mit ein bisschen Glück können an den zwei bis drei Tagen, die diese Feste dauern, gut 100 Euro oder mehr zusammenkommen.
    Auf einem dieser Feste fiel mir einmal ein kleiner Junge auf, der in meinen Augen eine phänomenale Leistung vollbrachte, was aber sonst niemand bemerkt zu haben schien. Das Wohnzimmer war voll und die Männer und Frauen saßen nebeneinander auf dem Sofa mit Rundecke. Die Stimmung war bedächtig und ruhig, ganz dem Anlass des Feiertages entsprechend. Nachdem zuerst die Töchter des Hauses die Reihe entlanggegangen waren und alle begrüßt hatten, kam noch ein Nachzügler, ein Junge von vielleicht vier oder fünf Jahren. Er ging zum ersten Gast in der Reihe, einem älteren türkischen Mann, nahm dessen Hand und sagte: »H oþgeldin amca, bayramýn kutlu olsun. « »Willkommen, Onkel, hab ein gesegnetes Fest«. Amca , Onkel, nannte er alle erwachsenen Männer und die Frauen teyze, Tante. Diese hatten eine große Freude an dem Kleinen, umarmten oder herzten ihn und lobten ihn für seine Höflichkeit. Dann drückten ihm manche ein kleines Geschenk in die Hand oder ein paar Euro oder steckten diese beiläufig in seine Hosentasche. So ging der Junge von Gast zu Gast, nahm eine Hand, setzte einen Kuss darauf, dann seine Stirn, sagte seinen Spruch und schickte ein Lächeln hinterher.
    Aber plötzlich, als er etwa in der Mitte der Reihe angekommen war und gerade die Hand des Gastes genommen hatte, der vor ihm saß, da schaute er noch einmal kurz hoch, lächelte und sagte auf Deutsch: »Guten Tag, Tante.« Dann ging er zum nächsten Gast weiter. Die »Tante« war eine deutsche Nachbarin, die zufällig auch zu Besuch gekommen war, und ich dachte: »Donnerwetter!« Der Junge hatte in all dem Trubel realisiert, dass es eine Person gab, die keine Türkin und keine Muslimin war und für die dieser Tag kein Feiertag war wie für alle anderen im Raum. Also brauchte er ihr auch nicht die Hand zu küssen und ihr kein gesegnetes Fest zu wünschen.
    Als ich das sah, war ich mehr als verblüfft, denn dieser kleine Knirps hatte eine ganz große Leistung erbracht. Er hatte erkannt, dass Menschen aus unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Feste feiern. In diesem Moment wurde mir klar, welchen großen Schatz türkische Kinder ebenso wie andere Kinder aus Zuwandererfamilien in sich tragen und wie traurig es ist, wenn das nicht gesehen und anerkannt wird.
    Stattdessen hört man immer wieder, dass sie angeblich zwischen den Stühlen sitzen. Dabei ist das nur eine negative Interpretation. Zwischen den Stühlen hätte der Junge gesessen, wenn er nicht gewusst hätte, dass man am Feiertag den Gästen die Hand küsst, oder wenn er die deutsche Frau auf Türkisch begrüßt hätte oder ihr auch ein schönes Fest gewünscht hätte. Das hätte gezeigt, dass er die beiden Kulturen nicht unterscheiden kann und dazwischenhängt. Doch das trifft nur auf die wenigsten zu.
    Wenn man von Menschen, die mit zwei Kulturen aufwachsen, sagt, sie säßen zwischen den Stühlen, dann wertet man sie und die tägliche Leistung, die sie vollbringen, ab, und das ist ungerecht. In Wirklichkeit ist es eine Kunst, auf zwei Stühlen gleichzeitig zu sitzen oder geschickt zwischen ihnen zu wechseln, mal den einen und mal den anderen zu benutzen. Diese Kunst beherrschen die meisten türkischen Kinder und Erwachsenen, die hier groß geworden sind, sehr gut. Es ist eine Kunst, die man lernen kann, so wie man auch Tanzen lernen kann, einfach indem man es tut.
    Es kann sein, dass nicht alle gut darin sind. Vielleicht ist das Deutsch manchmal nicht so perfekt wie bei Kindern aus deutschen Familien oder das Türkisch nicht so fließend wie bei Türken, die in der Türkei leben. Aber es ist und bleibt eine besondere Leistung, eine Sprache zu sprechen, die man nicht in der Schule und nicht in dem betreffenden Land lernt, sondern nur zu Hause in der Familie. So wie es auch eine besondere Leistung ist, Deutsch zu
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