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Zu Hause in Almanya

Zu Hause in Almanya

Titel: Zu Hause in Almanya
Autoren: Aysegül Acevit
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besuchte Familien, lernte Verwandte und Nachbarn kennen, ging shoppen oder saß einfach in einem Cafe und beobachtete die Menschen. Nach einer Weile aber bemerkte ich seltsame Dinge.
    Eine der Frauen, die ich kennen lernte, war zum Beispiel Ayten. Sie war die Freundin einer Musikerin, die ich auf einem Konzert kennen gelernt hatte. Eine junge Frau aus der Mittelschicht, arbeitete in einem Büro, hielt Katzen in der Wohnung, hatte zwei Geschwister, ihr Vater war Beamter, ihre Mutter Hausfrau.
    Einmal lud sie mich und ihre drei Freundinnen zum Essen ein. Wir saßen an einem runden Tisch und in der Mitte standen mehrere Teller mit verschiedenen Gerichten, sodass wir uns bedienen konnten. Kaum hatte ich den Löffel in der Hand, griff ich fröhlich zu und begann zu essen. Doch dann wurde es still am Tisch. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass die Frauen mich verwundert anschauten, und dann blickten sie sich gegenseitig an. Ich schluckte meinen Bissen hinunter und überlegte, was ich falsch gemacht hatte.
    Plötzlich fiel es mir ein: Natürlich, ich Egoistin. Ich hatte einfach angefangen zu essen. Das gehört sich nicht an einer türkischen Tafel. Ich hätte mich erst vergewissern sollen, dass alle gut bedient sind, ich hätte fragen sollen, ob die Damen noch irgendetwas benötigen, ob ich vielleicht Wasser bringen soll oder ob ich jemandem Salat geben kann, ob noch jemand Brot braucht oder sonst irgendetwas. Mich hatten sie dies alles schon gefragt, und erst jetzt wurde mir das bewusst. Die Frauen waren es so gewöhnt, und das unachtsame Verhalten einer Türkin aus Deutschland überraschte sie sehr.
    Erst später wurde mir richtig klar, wie unhöflich ich gewesen war. Mir fiel ein, wie meine Großeltern und meine Tanten im Dorf meiner Eltern uns immer bei Tisch verwöhnten, wenn wir aus Deutschland zu Besuch bei ihnen waren. Wie sie, obwohl sie nur sehr knapp bei Kasse waren, uns immer sehr großzügig bewirteten und wie sie sich stets vergewisserten, dass alle gut versorgt waren, bevor wir mit dem Essen begannen. In Deutschland hatte ich offensichtlich dieses Ritual verlernt. Hier gibt es eine etwas andere Tischkultur und es wird vielleicht mehr auf andere Dinge geachtet. Wenn einem etwas fehlt, wird man sich schon melden, das ist selbstverständlich. Niemand erwartet, dass man sich zuerst um die Bedürfnisse der anderen sorgt, bevor man zu essen beginnt, im Gegenteil. Zuerst an sich selbst zu denken wird niemandem übel genommen. Eine Einstellung, die ich, ohne es zu merken, übernommen hatte und die mir erst Ayten und ihre Freundinnen deutlich machten. Sie meinten, ich sei ja total verdeutscht.
    Und sie hatten offenbar Recht. Das wurde mir eines Tages noch deutlicher, als ich einen Verein besuchen wollte. Ich hatte etwas getrödelt und auch die Fahrt verzögerte sich, sodass ich zu spät kommen würde. Unterwegs zitterte und bangte ich schon, weil mir das peinlich war und ich malte mir die vorwurfsvollen Gesichter aus, die mich empfangen würden. Ich überlegte hin und her, wie ich den Leuten erklären könnte, dass ich es leider nicht rechtzeitig geschafft hatte. In Deutschland fühle ich mich immer schlecht, wenn ich unpünktlich bin und das bin ich ziemlich oft. Nun kam ich fast eine halbe Stunde zu spät im Verein an. Ich hatte meine Entschuldigung parat und rechnete mit dem Schlimmsten. Aber was war das? Ich stand vor der Tür und sie ging nicht auf. Niemand war da. Nervös schaute ich mich um – war ich vielleicht an der falschen Adresse? Sie stimmte. Ich klingelte erneut und klopfte hektisch, doch nichts passierte. Dann öffnete sich ein Fenster und eine Nachbarin schaute heraus. »Wollen sie zum Verein?« Ich bejahte das und die Frau fuhr fort: »Die sind noch nicht da. die kommen bestimmt gleich.« Gott sei Dank, dachte ich und atmete auf, aber gleichzeitig wunderte ich mich sehr und musste sogar schmunzeln. Da hatte ich mir völlig umsonst so viel Stress gemacht. Als nach einer Weile die Mitglieder allmählich eintrudelten, begrüßten sie mich, und wir gingen hinein, als wäre nichts gewesen. Niemand entschuldigte sich, niemand fühlte sich unwohl, weil er zu spät kam. Man war eben etwas später da, und das war nicht der Rede wert.
    Diese Gelassenheit fand ich sehr sympathisch, und mir wurde klar, wie sehr ich die berühmte deutsche Pünktlichkeit verinnerlicht hatte, auch wenn ich es oft nicht schaffte, sie einzuhalten. Dabei geht es gar nicht nur um ein paar Minuten Zeit. Vielmehr geht es um eine
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