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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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Renaissance von neuem, Generation für Generation, nachdem die Vorbildlichkeit der Griechen für das Schulwesen der entstehenden Nationalstaaten wieder mit weitreichenden Folgen heraufbeschworen worden war. Sollte man es für möglich halten, daß auch die sogenannten Weltkriege des 20. Jahrhunderts unter anderem Wiederholungen des Trojanischen Krieges bedeuteten – organisiert von Generalstäben, deren führende Köpfe, auf jeder Seite der feindlichen Linien, sich jeweils als die vortrefflichsten Achaier verstanden, ja geradezu die Nachfahren des zürnenden Achilles und Träger einer athletisch-vaterländischen Berufung zu Sieg und Ruhm bei der Nachwelt? 5 Der unsterbliche Held stirbt unzählige Male. Hat nicht noch Karl Marx der Gräfin Hatzfeld im September 1864 nach dem Duell-Tod des Arbeiterführers Lassalle mit den Worten kondoliert, dieser sei »jung gestorben, im Triumph, als Achilles«? 6
    Die Frage, ob Homer schon, wie etwas später Heraklit, und sehr viel später noch immer Hegel, glaubte, der Krieg sei der Vater aller Dinge, mag hier
     unentschieden bleiben.Auch ob er, der Patriarch der Kriegsgeschichte und der Griechischlehrer zahlloser Generationen, einen Begriff von »Geschichte« oder »Zivilisation« besaß, ist ungewiß, eher unwahrscheinlich. Sicher ist nur, daß das Universum der Ilias ganz aus den Taten und Leiden des Zorns ( menis ) gewoben ist – so wie die etwas jüngere Odyssee die Taten und Leiden der List ( metis ) dekliniert. Für die archaische Ontologie ist die Welt die Summe der in ihr zu führenden Kämpfe. Der epische Zorn erscheint seinem Sänger als eine Primärenergie, die von sich her aufquillt, unableitbar wie der Sturm und das Sonnenlicht. Sie ist Aktionskraft in quintessentieller Gestalt. Weil sie wie eine erste Substanz das Prädikat »aus sich« beanspruchen kann, geht sie all ihren lokalen Provokationen voraus. Der Held und seine menis bilden für Homer ein unzertrennliches Gespann, so daß sich angesichts dieser prästabilisierten Union jede Herleitung des Zorns aus äußeren Anlässen erübrigt. Achilles ist zornerfüllt, so wie der Nordpol eisig, der Olymp umwölkt und der Mont Ventoux windumtost ist.
    Das schließt nicht aus, daß die Anlässe dem Zorn die Bühne bereiten – doch beschränkt sich ihre Rolle buchstäblich darauf, ihn »hervor«zurufen, ohne sein Wesen zu verändern. Als die Kraft, welche die strittige Welt im Innersten zusammenhält, bewahrt er die Einheit der Substanz in der Vielheit der Eruptionen. Er existiert vor allen seinen Manifestationen und überlebt wie unverändert seine intensivsten Verausgabungen. Wenn Achilles grollend in seinem Zelt hockt, gekränkt, nahezu gelähmt, seinen eigenen Leuten gram, weil ihm der Heerführer Agamemnon die schöne Sklavin Briseïs, dieses symbolisch hochbedeutsame »Ehrengeschenk«, abspenstig gemacht hatte, so tut das seiner glänzend-zürnenden Natur keinen Abbruch. Die Fähigkeit, an einer Zurücksetzung zu leiden, zeichnet den großen Kämpfer aus; die Verlierertugend des »Loslassenkönnens« hat er noch nicht nötig. Ihm genügt es, zu wissen, daß er im Recht ist und Agamemnonihm etwas schuldet. Diese Schuld liegt nach altgriechischen Begriffen objektiv vor, da die Ehre des großen Kämpfers ihrerseits objektiver oder sachhafter Natur ist. Wenn der nur dem Rang nach Erste dem der Kraft nach Ersten eine Auszeichnung entzieht, ist die Ehrverletzung auf höchstem Niveau real gegeben. Die Groll-Episode zeigt die Kraft des Achilles im brütenden Stillstand – auch Helden kennen Zeiten der Unentschiedenheit und des Wütens nach innen. Doch ein ausreichend heftiger Anstoß genügt, um den Motor seiner menis wieder in Gang zu setzen. Ist dieser Anstoß geliefert, sind die Folgen schauerlich-faszinierend genug, um eines »Städtezerstörers« mit einem Kampfrekord von dreiundzwanzig vernichteten Siedlungen 7 würdig zu sein.
    Der junge Favorit des Achilles, Patroklos, der auf dem Kampfplatz übermütig die Rüstung des Freundes getragen hatte, war von dem Vorkämpfer der
     Trojaner, Hektor, erschlagen worden. Kaum hat die Nachricht von diesem unheilkündenden Vorfall im griechischen Lager die Runde gemacht, verläßt Achilles
     sein Zelt. Sein Zorn hat sich wieder mit ihm vereinigt und diktiert von da an ohne Schwankung die Richtung des Handelns. Der Heros verlangt eine neue
     Rüstung – das Jenseits selbst beeilt sich, die Forderung zu erfüllen. Der Zorn, der in den Helden einströmt, ist nicht einmal auf
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