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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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klassischer Entfaltung kam; sie ist in jeder Kultur präsent, der es gelang, sich der Herrschaft serviler, holistischer, monologischer und masochistischer Motive zu entziehen. Wem daran liegt, die mögliche Universalität demokratischer Politik-und Lebensformen zu behaupten, sollte die Beratungskulturen, die Diskussionspraktiken und die Kritiktraditionen»der anderen« als regionale Demokratiequellen in Betracht ziehen. 37
    Die folgende Einsicht ist wie ein Axiom festzuhalten: In der globalisierten Situation ist keine Politik des Leidensausgleichs im Großen mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut, unter welchen welterlöserisch, sozialmessianisch oder demokratiemessianisch codierten Verbrämungen auch immer. Diese Erkenntnis setzt der moralischen Produktivität von Vorwurfsbewegungen enge Grenzen, selbst wenn sie – wie der Sozialismus, der Feminismus, der Postkolonialismus – für eine jeweils an sich respektable Sache eintraten. Viel wichtiger ist es jetzt, die altehrwürdig-fatale Allianz von Intelligenz und Ressentiment zu delegitimieren, um zukunftsfähigen Paradigmen entgifteter Lebensweisheit Raum zu verschaffen. Deren Kriterien sind nicht besonders neu – John Locke, Vordenker des liberalen englischen Bürgertums, hat sie 1689 in schlichter Sprache formuliert: Es handelt sich um die Grundrechte auf Leben, Freiheit und Eigentum. 38 Was die Erfolgsgeschichte dieser Trias angeht, sind die historischen Befunde evident: Nur in den Gegenden der Welt, wo diese Normen respektiert werden, sind wirkliche Aufhellungen in Gang. Zweihundert Jahre später hat Friedrich Nietzsche – der Form nach sicher zu pathetisch, doch therapeutisch völlig stimmig – diese Prämissen erfolgreicher Zivilisierungen durch ein hygienisches Programm ergänzt, das die Befreiung vom Geist des Ressentiments auf die Tagesordnung bringt. Nietzsches Sorge galt der Ablösung der toxischen Figur »rachsüchtige Demut« durch eine Intelligenz, die sich ihrer thymotischen Motive neu vergewissert. Man versteht: Ohne offene Ambitionskultur ist das nicht zu haben. Die müßte in dem Sinne postmonotheistisch sein, daß sie die Fiktionen der Vergeltungsmetaphysik und ihrer politischen Reflexe in der gebotenen Gründlichkeit aufbricht. Intendiert ist eine Meritokratie, die, innerkulturell und transkulturell, eine antiautoritär entspannte Moral zum Ausgleich bringt mit ausgeprägtem Normenbewußtsein und Respekt vor unveräußerlichen Personenrechten. Das Abenteuer der Moral vollzieht sich durch das Parallelogramm der elitären und egalitären Kräfte. Allein in diesem Rahmen ist der Akzentwechsel von Aneignungstrieben auf gebende Tugenden denkbar.
    Die Einsätze dieses Bildungsprogramms sind hoch. In ihm geht es um die Schaffung eines code of conduct für multizivilisatorische Komplexe. Ein solches Schema muß hinreichend belastbar sein, um mit der Tatsache zurechtzukommen, daß die komprimierte oder globalisierte Welt bis auf weiteres multimegalomanisch und interparanoid bleibt. Man kann ein Universum aus energischen, thymotisch irritierbaren Akteuren nicht durch ideale Synthesen von oben integrieren, sondern nur durch Kraft-Kraft-Beziehungen im Gleichgewicht halten. Große Politik geschieht allein im Modus von Balanceübungen. Balance üben heißt keinem notwendigen Kampf ausweichen, keinen überflüssigen provozieren. Es heißt auch den Wettlauf mit den entropischen Prozessen, vor allem der Umweltzerstörung und der Demoralisierung, nicht verloren geben. Hierzu gehört, sich immer mit den Augen der anderen sehen zu lernen. Was vormals die überforderte religiöse Demut leisten sollte, wird eine Rationalitätskultur erbringen müssen, die auf Beobachtungen zweiter Ordnung aufbaut. Nur sie kann die maligne Naivität stoppen, indem sie den Geltungswillen mit Selbstrelativierung verbindet. Für die Lösung dieser Aufgaben ist Zeit vonnöten – aber diese ist nicht mehr die geschichtliche Zeit des Epos und des tragischen Dramas. Die wesentliche Zeit ist als Lernzeit für Zivilisierungen zu bestimmen. Wer nur »Geschichte« machen will, fällt hinter diese Definition zurück.
    Das Wort Übung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daßimmer unter Bedingungen des Ernstfalls geübt wird, um seinen Eintritt nach Möglichkeit zu verhindern. Fehler sind nicht erlaubt und doch wahrscheinlich. Bei günstigem Verlauf der Übungen könnte sich ein Set von interkulturell verbindlichen Disziplinen herausbilden, den man dann erstmals
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