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Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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wo es aufkochende Jungmännerüberschüsse gibt, werden die unruhigen Scharen in den Begriffen des Heiligen Krieges gedrillt. Nur ein kleiner Teil hiervon wird sich im externen Terrorismus manifestieren können, der bei weitem größere dürfte in lebenverbrauchende Bürgerkriege auf arabischem Boden investiert werden – Kriege, von denen das iranisch-irakische Massaker von 1980 bis 1988 einen Vorgeschmack gegeben hat, bei denen allerdings die quantitativen Proportionen vorhersehbar ins Monströse anwachsen. Riesenhafte Vernichtungsschlachten zwischen schiitischen und sunnitischen Kriegsparteien sind nicht undenkbar – die Zerstörungen von Moscheen und heiligen Stätten der jeweils anderen Seite liefern hierzu allem Anschein nach das Vorspiel. Daß Israel weitere Bewährungsproben vor sich hat, ist nicht zu verkennen.Ohne eine weitsichtige Politik der Abschottung kann die jüdische Enklave die nächsten Jahrzehnte nicht überstehen. Die Wahrheit ist: Selbst Kenner der Lage besitzen heute nicht die geringste Vorstellung davon, wie der machtvoll anrollende muslimische youth bulge , die umfangreichste Welle an genozidschwangeren Jungmännerüberschüssen in der Geschichte der Menschheit, mit friedlichen Mitteln einzudämmen wäre. 33
    Diese Hinweise auf die aktuelle Massenbasis radikalislamistischer Bewegungen bezeichnen zugleich die Grenze, an der ihre Vergleichbarkeit mit dem historischen Kommunismus endet. Die heutigen wie die kommenden Träger des islamistischen Expansionsgedankens gleichen in keiner Weise einer Klasse von Arbeitern und Lohnempfängern, die sich zusammenschließen, um durch die Eroberung der Staatsmacht ihrer Misere ein Ende zu setzen. Viel eher stellen sie ein aufgebrachtes Subproletariat dar, schlimmer: eine desperate Bewegung aus ökonomisch Überflüssigen und sozial Unverwendbaren, für die es in ihren eigenen Systemen viel zuwenig akzeptable Positionen gibt, selbst wenn sie durch Staatsstreiche oder Wahlen an die Macht gelangten. Aufgrund der demographischen Gegebenheiten werden die Feindbilder solcher Bewegungen nicht soziologisch zu definieren sein, wie es bei der marxistisch begriffenen »Ausbeuterklasse« der Fall war, sondern nur religiös, politisch, kulturell – sie richten sich intern gegen die in den Augen der Aktivisten verachtungswürdigen Eliten, die dem Westen politisch zu weit entgegenkommen, extern gegen den Westen als solchen, sofern dieser als Inbegriff kränkender, zersetzender und obszöner Kulturimporte portraitiert wird. Naturgemäß werden ihre Führer früher oder später den Versuch wagen, die Rentenstaaten des Vorderen Orients in ihre Gewalt zu bekommen, um die Kommandohöhen der Umverteilung von riesenhaften, auf dem Erdölgeschäft beruhenden Reichtümern zu besetzen. Damit könnten sie ihre Klientel vorübergehend durch Teilhabe am Öl-Manna beruhigen. Da die steigenden Energiepreise der nächsten Jahrzehnte der provozierenden Reformfaulheit der bestehenden Öltheokratien zu Hilfe kommen, sind Aufstände in diesen Ländern mehr als wahrscheinlich. Der Kasus Iran hat vorgemacht, was dann geschieht.
    Sosehr es also zutrifft, daß die islamistische Theokratie auf dem formal und materiell totalitären Anspruch beruht, alle Lebensvollzüge in einer
     virtuell islamisierten Weltgesellschaft nach koranischem Recht zu ordnen, so wenig wäre sie imstande, den ökonomischen, politischen, technischen und
     künstlerischen Tatsachen des gegenwärtigen Zeitalters zu begegnen. Während der Kommunismus eine authentische Ausprägung westlicher
     Modernisierungstendenzen verkörperte, ja, in einigen Hinsichten, obschon nicht in ökonomischer, deren Avantgarde bildete, stehen dem politischen
     Islamismus seine Ungleichzeitigkeit gegenüber der modernen Welt und seine gegenmoderne Grundhaltung an die Stirn geschrieben – hierzu gehören seine
     gebrochene Beziehung zur globalen Wissenschaftskultur und sein durchgängig parasitäres Verhältnis zur Waffentechnologie des Westens. Daran vermag die
     extreme demographische Dynamik der islamischen Welt fürs erste nichts zu ändern, deren Einwohnerschaft sich zwischen 1900 und 2000 von 150 Millionen auf
     1,2 Milliarden vermehrte – was einer Verachtfachung entspricht. Die »Bevölkerungswaffe« ist zwar, wie Gunnar Heinsohn gezeigt hat, neuzeitlicher
     Herkunft, 34 sie muß sich aber bei fehlenden Expansions- und Auswanderungschancengegen ihren Besitzer wenden. Wenn einer der Hamas-Führer, der palästinensische Arzt Abdel Aziz
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